A.L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land

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A.L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Hanser-Verlag. 464 Seiten. 28 Euro.

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Die Grundschullehrerin Anna verzweifelt an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihr im Lockdown-Jahr 2020 feindseliger und unmenschlicher denn je vorkommen. Trotzdem glaubt sie an die Kraft der Barmherzigkeit und kämpft dafür. – A.L. Kennedys setzt sich in ihrem neuen Roman radikaler denn je mit der Condition humaine auseinander.

Anna ist Lehrerin an einer Londoner Grundschule. Jedes Jahr, wenn sie dort die 6. Klasse übernimmt, erzählt sie den Mädchen und Jungen zur Einführung das Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem der böse Gnom seine Macht verliert, nachdem die Königin seinen Namen herausbekommen hat. Für Anna ist dieses in allen Kulturen verbreitete Märchen nämlich eine „Mutmachgeschichte“.

Seit 4.000 Jahren erzählen wir uns gegenseitig, dass man alle Ungeheuer besiegen kann, wenn man weiß, wer sie wirklich sind.

Anna sieht ihre wichtigste Aufgabe darin, ihre Welt vor den „Stilzchen“, dem Bösen also, zu schützen. Ihre Welt, das sind die 16 Schüler ihrer 6. Klasse. Das ist aber auch ihr erwachsener Sohn Paul, der noch bei ihr lebt und ihr Freund Francis. Mit dem kann sie gerade nur übers Internet kommunizieren, denn er sitzt auf einer schottischen Insel fest. Es ist Lockdown-Zeit. Der Roman spielt im Corona-Jahr 2020. – Corona – die Krankheit, vor allem aber die widersprüchliche und willkürliche Lockdown-Politik der britischen Regierung, sind ein wichtiges Thema in den Aufzeichnungen Annas, aus denen der Hauptteil des Romans besteht. Diese Politik offenbart in ihren Augen die ganze Kälte der Herrschenden gegenüber den Schwachen und Hilfsbedürftigen. Dagegen hat Anna, das erzählt sie in einer ganzen Reihe von Rückblenden, ihr ganzes Leben gekämpft. Nach ihrem Studium war sie Mitglied einer Straßentheater-Gruppe namens „UnRuleOrKestrA“, die bei Streiks und Demos mit Sketchen und Akrobatik auftrat. Und auch jetzt, fast dreißig Jahre später, hat sie nicht ihren Glauben daran verloren, dass es inmitten all der Unbarmherzigkeit menschliche Wärme geben kann.

Menschen versuchen immer noch, sich gegenseitig zu retten. Fast alle, die an der Macht sind, wollen uns derzeit davon abschrecken, aber ich will weiterhin glauben, dass dies das Beste an uns ist.

In die von der Wut gegen verkommene Machteliten getriebenen, oft sprunghaften, aber immer hellwachen und intelligenten Aufzeichnungen der Lehrerin Anna hat die Autorin eine den Roman tragende Handlungsebene eingezogen. Die beginnt damit, dass Anna zu einer Gerichtsverhandlung muss, in der sich ihre alte Straßentheatergruppe wegen einer Lappalie zu verantworten hat. Auf der Zuschauertribüne des Gerichts erkennt sie einen von ihr „Buster“ genannten Mann, der auch einmal zum „UnRuleOrKestrA“ gehört und in den sie sich damals heftig verliebt hatte. Er verschwand, als sich herausstellte, dass er ein Polizeispitzel war, der die Gruppe ausspionieren sollte. Auch jetzt flieht er aus dem Gerichtssaal, als er merkt, dass Anna ihn erkannt hat. Sie verfolgt ihn durch die Londoner City und stellt ihn schließlich in seinem Versteck, einem alten Frachtkahn.

Ich wollte ihn töten. Aber ich werde es nicht tun. Er würde es nicht überleben, ermordet zu werden, aber ich auch nicht – nicht als ich. Ich würde mich nur noch mehr von ihm stehlen lassen. – Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe meine Wut, natürlich habe ich sie. Die ist immer kurz davor loszuheulen wie die Hunde im Rudel. Aber ich lasse die Hunde nie los. Ich denke intensiv über sie nach, bis sie ein geordnetes Schlittenhundgespann bilden, das mich auf den richtigen Weg bringen kann.

Auch die Wut, die A.L. Kennedys Schreiben immer stärker anzutreiben scheint, findet in diesem Roman einen „richtigen“, nämlich den Weg zu einer ebenso spannenden wie literarisch überzeugenden Konstruktion: Zwischen die Aufzeichnungen Annas baut sie eine weitere Erzählerstimme ein, nämlich die Lebensbeichte des Polizeispitzels „Buster“, die er nach ihrer Wiederbegegnung in einzelnen Kapiteln an Anna schickt. – Die daraus folgende Zweigleisigkeit der Erzählperspektiven ist nicht bloß ein formaler Trick. Inhaltlich durchbricht die Autorin mit ihm die schlichte Gut-Böse-Dichotomie, die in der Weltsicht Annas angelegt ist – und stellt sie in Frage. In dieser Sicht gehört „Buster“ eindeutig zum Reich des Bösen. In seinen Briefen an Anna erweist er sich zunächst tatsächlich auch als ein emotional schwer gestörter Killer. Doch dann stellt sich heraus, dass er in gewisser Weise ein Geistesverwandter Annas ist. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, alle Bösen, die Kinderschänder, Drogenbosse und Waffenschieber aus dieser Welt zu entfernen, indem er sie tötet.

Ich beseitige unzweifelhaftes Unrecht und kenne bei meinen Missionen keine grauen und ungenauen oder fraglichen Aspekte. Ich bin der Dienst an der Gerechtigkeit und die Arbeit in einem überwucherten und verunkrauteten Garten, damit das Gute ans Licht finden und gedeihen kann.

Was ist gut, was ist böse? Dass A.L. Kennedy trotz ihrer Wut auf die Verursacher der katastrophalen gesellschaftlichen Ungerechtigkeit keine eindeutige Antwort auf diese uralte Frage anbietet, macht ihren Roman zu einem radikalen politischen und literarisch bedeutenden Zeitdokument.

WDR 3 Kultur am Mittag 30. Mai 2023