Historischer Roman. Emons-Verlag August 2023
Der Roman knüpft an ein reales historisches Ereignis an, nämlich die Tatsache, dass ein Teil der Dollar-Reichsbankreserven – eine halbe Million Dollar – im April 1945 in der Nähe des oberbayrischen Walchensees vergraben wurde. Im Mai stahl eine Gruppe um den in Garmisch ansässigen Diplomatensohn Hubertus von Blücher mithilfe korrupter amerikanischer Besatzungsoffiziere den Schatz. Die meisten der Beteiligten verschwanden damit später nach Südamerika.
Der Roman nähert sich diesem Kriminalfall über die Geschichten dreier daran ursprünglich nicht beteiligter, fiktiver Protagonisten: Ernst ist Anfang dreißig, ein früherer Kommunist. Er kommt aus Buchenwald und sucht in Garmisch denjenigen, der ihn 1936 verraten hat und will sich an ihm für den Tod seiner Braut rächen. Susan ist eine englische Anthropologin Mitte zwanzig, die sich für die „Lebensborn“-Experimente der Nazis interessiert. In Garmisch sucht sie den dafür verantwortlichen Arzt, der hier in einem Internierungscamp einsitzt. Josef ist der 20jährige Enkel des Oberförsters vom Walchensee, der indirekt in den Diebstahl verwickelt ist. Hubertus von Blücher hat ihn als seinen Fahrer rekrutiert. Alle drei treffen in der Militärkommandantur aufeinander, sie sind sich sympathisch und entdecken, dass jeder dem anderen helfen kann. Als sie hinter den von Blücher geplanten Raub kommen, tun sie sich zusammen und beschließen, den Gaunern den Schatz abzujagen. Mit List, Tücke und auch einer Portion Brutalität gelingt ihr Coup und sie fliehen mit ihrem Jackpot Richtung Schweiz.
Textbeispiel
ERSTER TAG
Die Müdigkeit kriecht in ihm hoch wie ein langsam wirkendes Gift, dem man sich irgendwann freiwillig hingibt. Wenn man nur könnte. Er hätte gerne die Beine auf der Holzbank ausgestreckt, aber die Frau links neben ihm achtet mit strengen und strafenden Blicken darauf, dass er die Grenze der ihm zustehenden Hälfte der Bank um keinen Zentimeter überschreitet. Jedes Mal, wenn er seine Füße ein wenig weiter nach links verschiebt, drückt sie sie mit ihrem Pappkoffer zurück in seinen Bereich. Unter anderen Umständen wäre das ein lustiges Spiel.
Die Frau ist hohlwangig, die dunklen Augen liegen in tiefen Höhlen, strahlen aber die bittere Entschlossenheit der Über- lebenskämpferinnen aus, denen er in den Eisenbahnen und den Wartesälen seit seiner Abfahrt aus Weimar vor zwei Wochen ständig begegnet. Natürlich könnte er mit ihr darüber diskutieren, dass ihr verdammter Koffer nichts auf der Bank verloren hat, dass diese Bank für Menschen da ist und nicht für Koffer, dass sie mit dem Koffer gefälligst Platz machen soll, damit er seine müden Beine ein bisschen ausstrecken kann. Aber er weiß, dass diese Diskussion sinnlos wäre. Niemals würde sie den Koffer aus der Hand geben, ihn außerhalb ihres unmittelbaren Zugriffs aufbewahren. Koffer gehören in diesen Tagen zu den wertvollsten Dingen, die ein Mensch besitzen kann. Also nimmt er nach einiger Zeit seine Beine von der Bank herunter, stellt sie auf den Boden, im Wissen, dass er so nie zum Schlafen kommen wird. Er kann nicht im Sitzen schlafen, konnte er noch nie. Dabei ist er seit Tagen so müde, dass er das Gefühl hat, sogar im Stehen einschlafen zu können, und dass immer dringlicher der Wunsch in ihm wächst, er wäre ein Pferd.
Doch selbst wenn er sich auf der Bank ausstrecken könnte, wäre es nicht sehr wahrscheinlich, dass er hier Schlaf fände. Es ist um die Mittagszeit, und der Wartesaal in dem Nürnberger Vorortbahnhof ist zum Bersten voll, der Lärm hier ebenso unerträglich wie der Gestank. Die komplette Altstadt wurde bei dem alliierten Luftangriff am 2. Januar mitsamt dem Hauptbahnhof zerstört, deshalb wird der Zugverkehr mühsam um die Stadt herumgeleitet. Dieser Wartesaal hier ist viel zu klein für das Heer von Menschen, das wie in allen Bahnhöfen Deutschlands manchmal tage- und nächtelang auf Züge wartet, von denen niemand weiß, wann oder ob sie überhaupt fahren werden. Zwischen die Zugreisenden mit ihren Koffern, Pappkartons und Rucksäcken drängen sich etliche Dutzend andere Menschen, die hier sind, um Geschäfte zu machen: wieselige Schwarzmarkthändler, magere Mädchen und Jungen, die sich ganz offensichtlich zu prostituieren versuchen, Leute mit stierem, halb wahnsinnigem Blick, verlumpt und halb verhungert, die suchend durch die Menge irren, ohne dass ersichtlich würde, was sie suchen. In einigen Winkeln des Wartesaals wird auf Wehrmachts-Karbidkochern gekocht. Was aus den Kochgeschirren schwillt, ist das, was den penetrant aasigen Gestank verursacht, der in scharfen Schwaden den allgemeinen Wartesaaldunst durchzieht.
»Ernst?«
Er ist gegen jede Erwartung tatsächlich eingenickt, wacht auf, blickt um sich, sieht den nicht, der seinen Vornamen ruft.
»Ernst Fleck!«
Jetzt erkennt er ihn, drei Bänke vor sich. Es ist Milan, einer der Musiker der tschechischen Jazzband in Buchenwald. Ernst hat ihn spielen gesehen an jenem kalten Winterabend im vergangenen Dezember, an dem Willi Seifert, der Kapo der Arbeit, es tatsächlich geschafft hatte, dem SS-Rapportführer die Genehmigung für ein Jazzkonzert im französischen Block abzuschwatzen. Zur »Hebung der Arbeitsmoral«, die bei ihnen im Block als die zweitschlechteste im ganzen Lager galt. Gleich hinter der der Russen.
Milan gestikuliert wild, winkt ihn zu sich. Ernst macht eine abwehrende Handbewegung, weist auf seinen Platz, den er unter keinen Umständen verlieren will. Doch Milan hört nicht auf, ihm zu bedeuten, er solle rüberkommen. Ernst, der bisher sitzen geblieben ist, erhebt sich ein Stück, um zu sehen, warum der andere so scharf darauf ist, dass er zu ihm kommt. Milan hat tatsächlich eine ganze Bank für sich, hat seine Instrumentenkoffer so wichtigtuerisch darüber verteilt, dass es bisher offensichtlich niemand wagte, ihm den Platz dafür streitig zu machen.
Ernst nimmt seinen Rucksack und geht zu ihm hinüber; im Weggehen sieht er, wie die Frau auf seiner Bank ihm einen hasserfüllten Blick nachschickt und dabei hastig ihre Beine auf der frei gewordenen Stelle ausstreckt.
»Hallo, Ernst! Wie geht es dir? Was hast du seit dem 11. April gemacht? Hast du schon Verwandte gefunden? Wo geht es hin?«
Milan ist ein junger Kerl, noch nicht mal Mitte zwanzig, ist dünn und hat viel zu lange und ungewaschene Haare, wie alle Menschen in diesen Tagen. Sein Französisch ist gut, der slawische Akzent fast weggeschliffen; wenn man nicht wüsste, woher er kommt, würde man ihn nicht heraushören.
»Und du? Wohin fährst du?«
»Nach Prag natürlich! Wohin sonst?«
»Zu deiner Familie?«
»Mal schauen, was davon übrig ist. – Immerhin haben sie mir meinen Platz im Symphonieorchester freigehalten. Ich kann gleich anfangen, ist das nicht der Wahnsinn?« Milan sieht Ernst an wie ein Schüler, der von seinem Lehrer ein Lob erwartet. Ernst weiß, dass er für ihn eine Respektsperson ist, nicht nur, weil er ein paar Jahre älter ist, sondern weil er als deutscher Kommunist zur Lagerelite gehörte und deshalb die Macht hatte, eine schützende Hand über Milans Band zu halten.
»Glückwunsch«, sagt Ernst.
»Danke dir! – Weißt du noch: Ménilmontant, mais oui, madame …« Milan singt die ersten Takte. »C’est là que j’ai laissé mon cœur …«
»Ja, ich erinnere mich«, sagt Ernst. »Ich erinnere mich gut.«
Charles Trenets Chanson ist der Höhepunkt des Konzerts im Dezember gewesen, obwohl es neben Stücken wie Ellingtons »Solitude« und »Caravan« oder dem »Tiger Rag« eigentlich gar nicht ins Programm passte. Gesungen hat es ein Franzose, ein Elsässer, Frager hieß er oder so ähnlich, mit einer so klaren und betörenden Stimme, dass allen, die zuhörten, die Tränen in die Augen traten.
»Je suis pas poète, mais je suis ému. Et dans ma tête y a des souvenirs jamais perdus«, singt Milan die Strophe, in der die Melodie nach Moll moduliert.
»Ja.« Ernst nickt. »Die Erinnerungen haben viele von uns am Leben gehalten in Buchenwald.«
»Stimmt. Aber jetzt geht es weiter, Ernst! Also sag schon, was hast du vor? Wo willst du hin?«
»Nach Hause, nach München.«
»Nach München? Ich dachte, du bist Franzose?«
»Nein, ich musste ’35 aus Deutschland abhauen, bin nach Paris gegangen, hab da gelebt und gearbeitet, bin ’42 zu den Francs-Tireurs et Partisans gestoßen, und bei denen hat mich dann Anfang ’44 die Gestapo eingesammelt …«
»Das wusste ich nicht«, sagt Milan. »Ist jetzt auch nicht mehr wichtig.«
»Und was hast du vor in München?«
»Muss da was erledigen.«
***
Sie umkurvt einen gewaltigen Trümmerhaufen, bis der Blick auf das Neue Rathaus endlich frei wird. Das zerstörte Gebäude mitten in Wiesbaden präsentiert sich ihr in einer so vollkommenen Schönheit, wie sie das unversehrte nie besessen haben konnte. Gegenüber dem Drama des abstrakten Dachstuhlgerip- pes und der surreal leeren Fensterhöhlungen der übrig geblie- benen Giebel erscheint ihr das Bild, das sie aus ihrem Baedeker in Erinnerung hat, als rostfarben aquarellierter Kitsch. Die Zerstörung entkleidet die Architektur von allem Überflüssigen, reduziert sie auf ihr Wesentliches. Ihr scheint, als vermittele die eigentümliche Ästhetik solcher Gebäudeskelette eine sehr konkrete Vorstellung von Wahrheit. Ist das zerstörte Deutschland nicht das wahre Deutschland? Manchmal kam es ihr auf ihrer Reise hierher so vor. Vor allem als sie durch das fast vollständig zertrümmerte Köln fuhr, wo ihr die durch die Ruinen und Schuttberge irrenden Menschen wie Scherenschnitte in einem existenzialistischen Schattentheater erschienen. Auf das ihnen zukommende Maß gestutzt, auf das von Ameisen. Es ist nicht so, dass ihr das ein Gefühl von Genugtuung gegeben hätte. Im Gegenteil. Der ästhetische Schauer, der sie immer wieder auf ihrer Reise überfällt, macht sie auch traurig. Schließlich hat sie die Deutschen immer bewundert. Und tut es, zumindest in gewisser Weise, immer noch. Deswegen ist sie ja hier.
Susan parkt ihren roten Triumph Gloria – das Geschenk ihres Vaters zu ihrem zwanzigsten Geburtstag – vor dem Haus am Wiesbadener Schlossplatz, das Dr. Scherer ihr als seine Privatadresse angegeben hat. Es ist ein fünfstöckiges, mit wilhelminischem Stuck überladenes Gebäude in der weitgehend unversehrt gebliebenen Straßenzeile gegenüber dem ausgebombten Neuen Rathaus. Die gleich hinter dem Rathaus sich erhebende vieltürmige Marktkirche soll beim Angriff Anfang Februar auch einiges abbekommen haben, doch scheint sie zumindest noch über die Mehrzahl ihrer Türme zu verfügen. Überhaupt konnte Susan auf der Fahrt hierher sehen, dass Wiesbaden im Gegensatz zu Köln einigermaßen glimpflich durch den Bombenkrieg gekommen ist. Das macht sie zuver- sichtlich, dass auch das Haus »Taunus« noch stehen wird.
Sorgfältig schließt sie das Verdeck des Cabrios, weil sie es möglichen Dieben nicht zu leicht machen will. Obwohl die ganz schön schlau sein müssten, das Versteck unter dem Schwiegermuttersitz des Wagens zu finden. Und dann wür- den sie immer noch einige Gewalt anwenden müssen, um die Schlösser zu knacken, mit denen sie ihren Schatz gesichert hat. Er besteht aus siebzehn Stangen Chesterfield, die ihr Professor Lawson mitgab, um ihre Mission in Deutschland zu finanzie- ren. Lawson meinte, die müssten dort einen Gegenwert von fast dreihundert Pfund haben. Ungefähr so viel, wie der Triumph vor fünf Jahren gekostet hat.
Gottlieb Scherer öffnet gleich nach dem ersten Klingeln selbst die Wohnungstür. Lawson und Susan korrespondierten in den letzten beiden Jahren ausführlich mit dem SS-Arzt. Getroffen hat sie ihn bisher jedoch noch nie. Wie viele Nazis, denen sie bisher begegnet ist, stimmt Scherers Typus ganz und gar nicht mit dem von ihnen bewunderten und propagierten Ideal des Ariers überein; weder ist er blond noch blauäugig und auch sonst in keiner Hinsicht irgendwie ansehnlich. Er ist dunkel, breitschultrig, sein flaches Gesicht ist von Pockennarben zerfressen, die seltsamerweise auf Susan nicht abstoßend wirken, sondern den männlichen Charakter seiner ziemlich brutalen Züge unterstreichen. Er reicht ihr die Hand. Sein Händedruck entspricht seinem Äußeren.
»Es freut mich, Miss Mitford, dass Sie es zum verabredeten Datum geschafft haben. Ein Kunststück in diesen Zeiten.«
»Nicht wenn man einen soliden englischen Sechszylinder unterm Hintern hat.«
Scherer, der ihren Humor offenbar zu schätzen weiß, grinst anerkennend und führt sie in ein Arbeitszimmer mit hoher Decke. Die Fensterfront auf der einen Seite gibt den Blick auf die Rathausruine frei. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes reihen sich in Regalen Gläser aneinander, in denen Hunderte von Präparaten menschlicher Föten aller Wachstumsstadien und in allen nur denkbaren Varianten von Deformation bleich und mit geschlossenen Augen im Alkohol schwimmen. Susan kennt solche Sammlungen aus dem Depart- ment of Social Anthropology in Cambridge. In einer Privat- wohnung hat sie so etwas noch nie gesehen.
»Ich nehme an, ein Tee wäre Ihnen jetzt recht?«
»Absolut. Und gegen etwas Stärkeres zusätzlich hätte ich nach dieser Fahrt auch nichts einzuwenden.«
Ohne Susans Verlangen nach Alkohol zu kommentieren, geht Scherer zum Fenster und bringt hinter dem rotsamtenen Vorhang tatsächlich eine dicke, geflochtene Kordel zum Vorschein, an der er jetzt zieht, mit der Wirkung, dass man irgendwo in der Tiefe der Wohnung das Bimmeln eines Glöckchens hört. Dann holt er aus den Katakomben seines wuchtigen Eichenholzschreibtischs eine Kristallkaraffe mit bernsteinfarbenem Inhalt, anschließend zwei ebenfalls kristallene Tumbler. Susan kommt sich vor wie in einem Agatha-Christie-Krimi.
»Wie geht es meinem Freund Mark Lawson, Miss Mitford?«
Der an die Frage anschließende viertelstündige Small Talk dreht sich um die neuesten personellen und wissenschaftlichen Entwicklungen in der American Eugenics Society, deren korrespondierende Mitglieder Scherer und sein Lehrer Fritz Lenz wie auch Mark Lawson, Susans Doktorvater am Trinity College, sind. Die Verbindungen zwischen den amerikanischen, englischen und deutschen Eugenikern waren immer schon eng. Lenz, der Mitverfasser des deutschen Standardwerks zur Eugenik und des Gesetzes »zur Verhütung erbkranken Nach- wuchses« von 1933, brachte seinen Lieblingsschüler Gottlieb Scherer 1939 auch in Kontakt mit der British Eugenics Society, deren Direktor bis 1944 John Maynard Keynes war, dem vor Kurzem dann Mark Lawson nachgefolgt ist.
Nach dem ausgezeichneten Single Malt und dem weniger ausgezeichneten Tee, einem muffigen Assam, den ein wahrhaftig weiß beschürztes Dienstmädchen servierte, beendet Susan den Small Talk und kommt zur Sache.
»Es tut mir aufrichtig leid, Miss Mitford.« Ohne das ge- ringste Anzeichen von Bedauern in seiner Stimme zuckt Sche- rer auf ihre Frage nach den »Goldkindern«, wie sie sie nennt, die Schultern. »Aber das Heim ›Taunus‹ wurde schon im März, noch vor Ankunft der Amerikaner, evakuiert. An dieser Aktion war ich als leitender Arzt nicht mehr beteiligt. Das lag ganz in der Hand der Organisation. Deshalb kann ich Ihnen auch nichts über den Verbleib der Kinder sagen. Vermutlich sind sie in andere Heime in noch nicht vom Feind, ich meine, von den Alliierten besetztem Gebiet verbracht worden.«
»Das kann doch nicht wahr sein!« Susan kann ihre Fassungs- losigkeit nicht verbergen. Sie reicht Scherer ihren inzwischen geleerten Tumbler, der gießt ihr zwei Finger breit nach, nimmt sich selbst aber nichts mehr. »Die Sichtung und Beschreibung der Kinder ist das Herzstück meiner Arbeit!« Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hat, fährt sie etwas ruhiger fort: »Ohne sie wäre sie wissenschaftlich völlig wertlos!«
»Das weiß ich. Ich habe Ihren theoretischen Teil gelesen.« »Und? Was halten Sie davon?«
»Ausgezeichnet. Methodisch bringen Sie Galtons und Pearsons Ideen auf den neuesten wissenschaftlichen Stand. Die Produktivität des besten Erbgutes zu erhöhen hat Vorrang gegenüber der Unterdrückung der Produktion des schlech- testen Erbgutes. Das war auch unsere Prämisse.«
»Ohne empirischen Beweis bleibt das alles aber bloße Theorie!«
»Wie gesagt, die Kinder sind nicht mehr im Heim ›Taunus‹.« In Scherers Stimme verebbt die Geduld, mit der er ihr bisher geantwortet hat.
»Aber Sie haben bestimmt Aufzeichnungen? Messdaten? Tests? Gesprächsprotokolle?«
»Aufzeichnungen?« Scherer spricht das Wort aus, als bezeichne es etwas Ekelerregendes. »Sie glauben doch nicht, dass ich in der jetzigen Situation noch über irgendwelche Aufzeichnungen verfüge?«
***
Vorm Rathaus wird geflaggt, weil gestern der endgültige Waf- fenstillstand in Kraft getreten ist. Im Tagblatt steht, dass heute ein »Friedenstag« sei. Und dass die Amerikaner am Nachmittag eine Militärparade abhalten wollen. Josef bleibt stehen und be- obachtet die schwitzenden Rathausangestellten beim Ausrollen und anschließenden Hochziehen der Fahnen an den drei Flag- genbäumen vor dem Gebäude. Er wartet auf den Witz, dass sie aus Versehen eine Hakenkreuzfahne erwischt haben. Schließlich hieß der Rathausplatz bis vor zwei Tagen noch Adolf-Hitler- Platz. Aber er wird enttäuscht. Sie haben tatsächlich auch noch andere Fahnen im Rathauskeller gefunden. Zwei sind die blau- weiß gerauteten bayrischen, eine, die in der Mitte, ist rot-weiß. Josef weiß nicht, wofür das stehen soll. Polen? Ist die polnische Nationalflagge nicht auch rot-weiß geteilt? Aber was sollte die hier? Vielleicht ist es auch die von Garmisch-Partenkirchen? Er weiß gar nicht, wie die aussieht. Er beschließt, dass ihm das egal ist, und schlendert weiter die Bahnhofstraße hinauf, auf den Bahnhof zu, der immer noch nicht in Betrieb ist. Telefon oder Post funktionieren genauso wenig. Und die Versorgung mit Nahrungsmitteln erst recht nicht. Vor der Notverpflegungs- küche an der Tiroler Weinstube am Rathausplatz war ihm die Schlange zu lang. Aber irgendetwas gegen oder eher für den sich schmerzhaft zusammenziehenden Magen muss er unternehmen. Obwohl in den Bahnhof Züge weder ein- noch ausfahren, herrscht auf dem Platz davor immer reges Treiben, was Tausch- geschäfte angeht. Er hat zwar nichts zum Tauschen außer den paar Lebensmittelmarken der Oma. Aber vielleicht ergibt sich doch irgendwas. Irgendwas ergibt sich immer. Bisher jedenfalls.
So wie er denken wohl alle, die mit ihm auf den Straßen unterwegs sind. Auf dem Bürgersteig drängt es sich, doch der Strom der Fußgänger gerät immer wieder ins Stocken. Woran vor allem die Fahrradfahrer schuld sind, die ihre Räder über die Bürgersteige schieben müssen, weil sie nicht auf der Straße fahren dürfen. Anordnung des amerikanischen Kommandanten. Überall hängen die Plakate, auf denen er verkündet, dass allen Zivilisten verboten ist, Automobile und Fahrräder auf den völlig überlasteten Hauptstraßen zu benutzen. Über die brausen ununterbrochen, Tag und Nacht, amerikanische Militärfahrzeuge; dauernd passieren Unfälle. Wer ohne einen von der Militärregierung ausgestellten Passierschein angetroffen wird, steht auf den Plakaten, wird verhaftet, sein Fahrzeug wird beschlagnahmt und nicht zurückgegeben.
Schaut Josef den ihm Entgegenkommenden in die Gesichter, erkennt er sich selbst in ihnen. Erschöpft, ausgezehrt, halb verhungert, die Augen in den Höhlen viel zu groß, aufgeris- sen, die Blicke gehetzt. Aber nein, das glaubt er jetzt dann doch nicht, dass er gehetzt herumläuft. Dazu hat er eigent- lich keinen Grund – im Unterschied zu den Abertausenden von Fremden, die schon vor der Kapitulation nach Garmisch kamen und immer noch in die Stadt strömen. Nach den Nazis aus dem ganzen Reich, die an die »Alpenfestung« geglaubt haben, kommen jetzt die Ausgebombten aus den Großstädten, die Kinder aus der Kinderlandverschickung, die nicht wissen, wohin; die Flüchtlinge aus den von den Russen bedrohten Ge- bieten, zerlumpte deutsche Soldaten – alle irren umher auf der Suche nach einer Unterkunft und einer kostenlosen Essens- ausgabe. Die Probleme kennt Josef nicht, er hat sein Zimmer bei der Großmutter in der Wettersteinstraße, und der Oma stehen so viele Lebensmittelmarken zu, dass es neben ein paar Schwarzmarktgeschäften für sie beide reicht.
Er kommt an der amerikanischen Militärkommandantur vorbei; davor windet sich die endlose Schlange derjenigen, die irgendwelche Erlaubnisscheine brauchen. Ein alltäglicher Anblick. Nicht alltäglich aber ist der riesige Mercedes, der halb auf dem Bürgersteig vor der Kommandantur geparkt ist. Josef bleibt stehen. Er kennt diesen Mercedes. Jeder in Garmisch kennt diesen Mercedes. Es ist ein Mercedes W07 von 1938, eine knapp sechs Meter lange, drei Tonnen schwere schwarze Limousine mit einem Siebeneinhalb-Liter- und Achtzylinder- motor, die zweihundertdreißig PS auf die Straße bringt. Das Nazibonzen-Auto schlechthin. Davon wurden nur gut ein- hundert Stück gebaut. Mindestens drei davon gehörten dem Führer selbst, ein paar verschenkte er an irgendwelche auslän- dischen Diktatorenfreunde. Das Modell hier vor der Militär- kommandantur gehört Wipert von Blücher, einem Nachfahren des berühmten Generals. Wie er an dieses unbezahlbare Stück deutscher Autobaukunst gekommen ist, weiß niemand. Ein hohes Nazitier war er jedenfalls nicht; man sagt sogar, er habe sich mit den Nazis überworfen und sei deshalb von seinem Posten als deutscher Botschafter in Finnland abgerufen worden. Er hockt jetzt schon seit anderthalb Jahren droben in seiner mächtigen Villa in der Gsteigstraße und schreibt angeblich an seinen Memoiren.
Fasziniert vom schweren und gleichzeitig doch eleganten schwarz glänzenden Körper des Wagens nähert Josef sich ihm; ehrfürchtig streicht er mit den Fingern an der polierten Karosserie entlang und wirft einen Blick ins Innere. Niemand ist im Auto. Doch auf der ledergepolsterten Rückbank liegt etwas, dessen Anblick seinen Atem stocken lässt. Eine Leica II. Schlankes schwarzes Gehäuse, silbern blinkender verchromter Aufbau mit Entfernungsmesser und ein 35-mm-Schraubobjektiv von Zeiss. Ein Traum von einer Kamera. Dr. Rhode, ihr Physiklehrer am Werdenfels-Gymnasium, trug eine solche ständig bei sich, schwärmte von dieser Meisterleistung deutscher Feinmechanik und zeigte ihnen ständig die gestochen scharfen Aufnahmen, die er damit machte. Leider fotografierte er ausschließlich die Zugspitze, die er zwar aus allen Perspektiven und unter allen nur möglichen Witterungsbedingungen ablichtete, doch auf Dauer verloren seine mit den technischen Details der jeweiligen Aufnahme gespickten Bildvorträge an Attraktivität.
Haften geblieben ist bei Josef aber die durch Dr. Rhode vermittelte Erkenntnis, dass es sich bei der Leica II um ein Wunderwerk, um etwas überaus Wertvolles also handelt. Ihr Anblick saugt ihn buchstäblich an, und ohne dass er sich dessen richtig bewusst wird, tastet seine Rechte nach dem Griff der Wagentür, die ihn von diesem Zauberobjekt trennt. Und tatsächlich, es ist wie ein Wunder, der Griff gibt nach, die Tür öffnet sich widerstandslos und mit einem diskreten Geräusch. Die Leica II liegt jetzt zum Greifen nahe vor Josef. Und Josef kann gar nicht anders, er langt danach. Doch in dem Augenblick, in dem er den erstaunlich kühlen Apparat in der Hand hält, verspürt er einen solchen Tritt in seinen Hintern, wie er ihn bisher in seinem zwanzigjährigen Leben noch nie verspürt hat. Einen Tritt mit solcher Wucht, dass er ins Innere des Fonds befördert wird, einen Tritt, der seinen Kopf gegen die gegenüberliegende Tür donnern lässt, sodass Josef für einen Moment die Orientierung verliert. Lang genug jedenfalls, dass derjenige, der ihm den Tritt verpasst hat, ausreichend Zeit hat, das Auto zu starten und damit loszufahren, ohne Josef eine Chance zu lassen, herauszukriechen und sich zu retten.
***