Auf Vincent van Goghs Spuren in Auvers-sur-Oise

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https://www.musee-orsay.fr/en/whats-on/exhibitions/van-gogh-auvers-sur-oise

https://www.deutschlandfunk.de/van-gogh-in-auvers-sur-oise-dlf-4324453f-100.html

Am 3. Oktober beginnt im Pariser Musée d’Orsay eine Ausstellung der Gemälde, die Vincent van Gogh in seinen letzten Lebensmonaten, vom 20. Mai bis zu seinem Tod am 29. Juli 1890 in Auvers-sur-Oise gemalt hat. Dieser Werkkomplex von 74 Ölbildern und etlichen Zeichnungen wurde bisher nur einmal, und zwar im van-Gogh-Museum in Amsterdam, präsentiert. Er zeigt, bis auf wenige Ausnahmen, Bilder, die man bisher nicht ohne weiteres mit van Gogh in Verbindung brachte, denn das kollektive Bildbewusstsein verortete ihn eher als ein Maler des Südens, der Provence. Auvers-sur-Oise aber ist ein nördliches Städtchen, knapp 30 Kilometer von Paris entfernt. Entsprechend sind die Motive van Goghs; aber auch seine Malweise änderte sich hier.

„Nichts ist mehr da, das man sich ansehen könnte. Alles ist zu Tode geglotzt worden“, schrieb der vielgereiste Schriftsteller D.H. Lawrence über von Touristen frequentierte Orte. – Ähnlich scheint es auch dem kleinen Städtchen Auvers-sur-Oise zu ergehen, das seine Bekanntheit Vincent van Gogh verdankt: Der Ortskern an der verkehrsreichen Hauptstraße ist ein Touristenhotspot, gepflastert mit Schautafeln, auf denen neben Hinweisen zu den diversen Lebensstationen des Künstlers hier dessen Bilder als wetterfeste Reprografien zu sehen sind.

(Peter Kropmanns) Wir stehen hier an der Auberge Ravoux, ein relativ kleines, niedriges Haus, mitten im Dorf oder einem kleinen Städtchen, wenn Sie so wollen. Und hier hat van Gogh in den letzten Wochen seines Lebens gelebt und von hier aus ist er auch dann zum Motiv gegangen, um zu malen in der Umgebung.

Vielleicht gelingt es aber bei einem gemeinsamen Gang mit dem Kunsthistoriker und Impressionismus-Experten Peter Kropmanns durch das heutige Auvers, einen neuen, frischen Blick auf das Städtchen zu werfen. Und dabei gleichzeitig auch auf das Werk, das Vincent van Gogh hier in einem letzten Schaffensrausch schuf. Das sich übrigens deutlich vom anderen Teil seines vor allem in Südfrankreich geschaffenen Werks unterscheidet.

(Peter Kropmanns) Er ist ja ein Künstler, der mit Selbstporträts in Verbindung gebracht wird, mit Sonnenblumen, mit provenzalischen, mediterranen Landschaften, aber wenn man danach fragt, wo er eigentlich gestorben ist, wo er die letzten Wochen verbracht hat und wie seine letzten Werke ausgesehen haben, da wissen viele Leute keine Antwort drauf. Sie vermuten ihn dann in der Provence oder in Paris, aber in Wirklichkeit ist das eben hier passiert. Und das ist eine interessante Sache, das einmal unter die Lupe zu nehmen und den Scheinwerfer zu stellen: Was ist in den letzten Wochen passiert?

Nachdem van Gogh eine Nervenheilanstalt in Südfrankreich freiwillig verlassen und kurz bei seinem Bruder Theo in Paris Station gemacht hat, kommt er am 20. Mai 1890 in Auvers-sur-Oise an. Auvers war zu dieser Zeit ein 2.000-Einwohner-Städtchen nördlich von Paris, das schon damals den Ruf eines „village d’artistes“, eines „Künstlerdorfes“ hatte. Dem verdankte es dem Vorimpressionisten Charles-Francois Daubigny, der hier gewohnt und sein Atelier hatte. Aber nicht allein deswegen hat van Goghs Freund, der Maler Camille Pissarro, Vincent den Aufenthalt hier empfohlen. Sondern vor allem, weil hier Doktor Paul-Ferdinand Gachet lebt, ein in Künstlerkreisen geschätzter Nervenarzt. Der soll – und wird sich auch um Vincent kümmern. Denn dem Maler geht es psychisch immer noch nicht gut.

Der Ausblick auf das Kommende verdüstert sich, ich sehe durchaus keine glückliche Zukunft für mich.

Schreibt er drei Tage nach seiner Ankunft an seinen Bruder Theo. – Doch dann scheint ihm der Aufenthalt in Auvers zu bekommen. Täglich macht er sich mit seinen Malutensilien von der Auberge Ravoux aus auf und findet ganz in der Nähe seine ersten Motive. – Wenige Meter vom Ortskern und der Auberge Ravoux entfernt, wird es ruhig, fast dörflich-idyllisch. Die Straßen führen bergan, denn Auvers ist in den Abhang zum Oise-Tal gebaut. Die hellen Natursteinhäuser sind von Gärten umgeben, so auch das Haus, in dem Charles-Francois Daubigny wohnte und sein Atelier hatte. – Daubignys Atelier und der daran anschließende Garten sind auch heute noch, allerdings nur an den Wochenenden, zu besichtigen. Der Garten war eines der ersten Motive van Goghs in Auvers. Mehrfach hat er die sommerliche, von unterschiedlich großen Bäumen umhegte, leicht ansteigende Wiese gemalt, in verschiedenen Grüntönen, mit blau umrandeten Blumenbeeten in der Mitte und dem weißen Schloss von Auvers im Hintergrund.

(Peter Kropmanns) Auvers ist eine nördliche, sehr grüne und sehr feuchte Umgebung und dadurch hat sich auch der Charakter seiner Bilder geändert und dieser ganze Werkkomplex der Bilder in Auvers zeigt einfach auch nordeuropäische Vegetation, nordeuropäische Gärten. Und das kann vielleicht den einen oder anderen überraschen, weil er das nicht kannte und weil er das nicht mit van Gogh in Verbindung gebracht hat.

Ein anderer Garten, den van Gogh malte, ist der von Doktor Gachet. Dessen Haus, eine mächtige helle Natursteinvilla, liegt am Rande von Auvers, eine Viertelstunde Fußweg von van Goghs Unterkunft in der Auberge Ravoux entfernt. – Von diesem Weg aus, den van Gogh öfters entlang ging, um Doktor Gachet zu besuchen, malte er eines seiner ersten Landschaftsbilder hier, einen Blick von oben. In der Mitte des Bildes sieht man eine durch Felder führende Landstraße mit einem Pferdefuhrwerk darauf und am oberen Bildrand einen fahrenden Zug.

(Peter Kropmanns) Ja, mit der Dampflock vornedran. Das war damals eine gar nicht so alte Hauptstrecke von Paris nach Lille und zurück und die kam eben durch Auvers. Und man sieht auf dem Bild, das er gemalt hat, das Tal der Oise, die ein bisschen versteckt liegt, hinter der Eisenbahn, die Hügel auch, es ist ja hier nicht plattes Land. Und man sieht aber auch die vielen freien Flächen von Ackerbau und Landwirtschaft geprägt, von dem vieles heute bebaut ist und verschwunden ist. Und trotzdem, alles in allem muss man sagen, ist der ländliche, dörfliche Charakter noch sehr gut erhalten, man sieht doch sehr viele alte Gebäude, es ist doch eine wunderbare ländliche Atmosphäre.

Die Sorgen in meinem Kopf sind deutlich beruhig. Ich bin völlig eingenommen von dieser gewaltigen Ebene, die bis zu den Hügeln mit Weizenfeldern bedeckt ist, schrankenlos wie das Meer in delikaten Gelb- und Grüntönen, das blasse Violett der umgepflügten und gejäteten Erde, kariert in regelmäßigen Abständen mit grünen Intervallen der blühenden Kartoffelpflanzen, alles unter einem Himmel in delikatem Blau, Weiß, Pink und Violett. Ich bin in einem fast zu ruhigen Zustand, um das zu malen.

Schreibt van Gogh Mitte Juli an seine Mutter. – Zu dieser Zeit erkundet er gründlich das Dorf, malt viele Wege, Stiegen und Häuser, vor allem die ihn an die Niederlande erinnernden Ried-gedeckten Bauernkaten, die es heute nicht mehr gibt. Sein eigentlich Motiv aber findet er jenseits des Dorfrandes: Die Felder rings um Auvers. Die gibt es heute noch gibt wie zu seinen Zeiten. – Hier draußen entsteht eine ganze Reihe ausdrucksstarker und meist großformatiger Landschaftsbilder, die alle Weizenfelder, – grün im Mai, gelb im Juni und Juli – zeigen. An diesen Bildern wird der Unterschied zum van Gogh der Provence deutlich: Der Maler gestattet sich eine größere individuelle Freiheit, löst sich noch stärker von zeitgenössischen Konventionen, es scheint, er male mehr das, was er fühlt als das, was er sieht. – Nach einem Besuch Anfang Juli beim Bruder in Paris trübt sich die Stimmung des Malers jedoch wieder, das schlägt sich auch in seinen Weizenfelder-Bildern nieder: Der Horizont wird höher, der Himmel dunkler. „Weizenfeld unter Gewitterwolken“ entsteht. Das Bild „Weizenfeld mit Krähen“ hatte lange den Ruf, sein letztes Bild gewesen zu sein. Was allerdings nicht stimmt. – Inmitten dieser Äcker aber ist Vincent van Gogh – neben seinem Bruder Theo – auf dem Friedhof von Auvers begraben. Denn der Friedhof liegt einen halben Kilometer draußen, vor dem Ort, in freier Natur. – Kehrt man vom Friedhof in den Ort zurück, passiert man die massive frühgotische Kirche von Auvers, die van Gogh faszinierte und die er auch gemalt hat. Hinter der Kirche sind es nur noch wenige Schritte hinunter zu seinem Quartier, der Auberge Ravoux. Dort gibt es heute ebenerdig noch wie zu van Goghs Zeiten ein kleines, im Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtetes Restaurant. Im ersten Stock befanden sich früher Gästezimmer, jetzt ist es ein kleines, „Maison van Gogh“ genanntes Museum.

(Führerin) Donc ces chambres-ci c’étaient les plus belles, les plus grandes et donc forcément les plus chères. Vincent ne se permettait pas une chambre à cet étage, il en louait une là-haut, que vous allez voir après juste dans un instant, qui est donc sous les toits, juste ici et qui fait seulement 7 mètres carrés.

Hier waren zwei größere Gästezimmer, erzählt die Führerin. Die konnte sich Vincent nicht leisten. Er wohnte noch einen Stock höher, unterm Dach, in einem sieben-Quadratmeter-Raum.

(Führerin) Et donc Vincent un jour, le 27 juillet va être en retard pour manger et Monsieur Ravoux va tout de suite comprendre qu’il se passe quelque chose parce que c’est pas du tout dans ses habitudes d’être en retard. Alors il va monter les escaliers que vous allez monter dans un instant et malheureusement ses inquiétudes étaient vraies parce qu’il va trouver Vincent dans son lit avec une blessure par balle.

Am 27. Juli kommt Vincent nicht zum Abendessen. Der Wirt, Monsieur Ravoux, ahnt, dass etwas nicht stimmte, weil er sonst immer pünktlich kommt. Er steigt zu seinem Zimmer hinauf und findet ihn mit einer Kugel in der Brust auf seinem Bett. – Heute ist die winzige Dachstube leer. Weil Selbstmörder Unglück bringen, hatte Monsieur Ravoux das Bett, den Tisch und den Stuhl fortschaffen lassen. An der Wand hängt lediglich die Reprographie eines Tagebucheintrags Vincent van Goghs.

(Peter Kropmanns) Un jour ou un autre je crois que je trouverai moyen de faire une exposition à moi dans un café… Das war sein Traum, am 10.Juni 1890, also man kann sagen etwas mehr als einen Monat vor seinem Tod. Er träumte von einer Ausstellung in einem Café. Also man kann sagen er hatte keinen Größenwahn, er war bescheiden…

(Führerin) En fait le matin même pourtant Vincent était parti peindre á l’extérieur avec son chevalet et puis ses peintures mais cette fois-ci il n’a pas fini sa peinture, c’était «Les racines».

Noch am Nachmittag war Vincent mit seinen Utensilien zum Malen hinausgegangen. Dieses Mal beendete er sein Gemälde nicht, wie sonst nach seiner Rückkehr. Es heißt „Die Wurzeln“.

(Peter Kropmanns) …in einer kleinen Gasse, die ein bisschen ansteigt, ganz urig, und deren Ränder bewachsen sind mit Bäumen und mit Efeu, knorrigem Efeu, uraltem Efeu. Und man sieht hier ganz schön, wie diese am Hang liegenden Bäume und Sträucher ihre Wurzeln offenbaren. Also hier zeigt sich einfach Wurzelwerk, was ihn interessiert hat – und das ist Thema seines letzten Bildes gewesen. – Darüber hinaus ist es eben auch die Wurzel des Lebens, die Grundbedingung des Lebens und ich glaube es sind keine falschen Interpretationen, wenn man sich auch ansieht, wie er an seinen Bruder geschrieben hat, wieviel Symbolik auch in seinem Gedankengut enthalten ist und in seinen Briefen, die Hauptquellen sind für unser Verständnis seiner Malerei. Und es ging eben um Einsamkeit in dieser Zeit. Er hat gemerkt, wie alleine er doch eigentlich ist.

Deutschlandfunk, Sonntagsspaziergang 1. Oktober 2023