„Aus der Tiefe“ von Oscar Wilde

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Oscar Wilde: Aus der Tiefe. Gefängnisbriefe und die Ballade vom Zuchthaus Reading. Herausgegeben und übersetzt von Mirko Bonné. Hanser Verlag. 368 Seiten. 38 Euro

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/aus-der-tiefe/978-3-446-27632-1/

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/aus-der-tiefe-100.html

Wenn man die Fotos anschaut, die es von Lord Alfred Douglas gibt, kann man nachvollziehen, warum sich Oscar Wilde in den 16 Jahre jüngeren Studenten und angehenden Dichter unsterblich verliebte: Er war ein überaus schöner junger Mann. Doch wenn man die Abrechnung der Beziehung zu ihm liest, die Wilde in seinem Brief aus dem Zuchthaus vorlegt, kann man auch verstehen, dass Wilde sich von ihm verraten fühlte. Denn Douglas benutzte den Dichter als ein Instrument, um den Hass gegen seinen Vater John Douglas, den 9. Marquess von Queensberry, auszuleben: Alfred Douglas zettelte die Intrige an, in deren Verlauf sein Vater Wilde öffentlich der „Sodomie“ bezichtigte, Wilde sich dagegen wehrte und es anschließend zum Prozess gegen ihn kam, der ihn für zwei Jahre ins Zuchthaus brachte. – So ist Wildes Brief aus dem Zuchthaus durchaus als ein Kapitel aus der Weltliteratur des Liebesverrats zu verstehen, nämlich eine ebenso schmerzliche wie ohnmächtige Auseinandersetzung mit diesem Verrat.

Unter den vielen traurigen Geschichten des Liebesverrats in der Literatur ist die zwischen Oscar Wilde und Alfred Douglas die vielleicht traurigste. Nicht nur, weil sie wie alle diese Geschichten in der puren Verzweiflung des verratenen Liebenden endete. Sondern weil sie ihren Niederschlag in diesem Brief fand. Der ist traurig wegen seines Inhalts, der Rekapitulation der mehrjährigen Beziehung Wildes zu Douglas. Traurig ist er auch, weil er die Ohnmacht des großen Schriftstellers bezeugt, seiner existentiellen Fassungslosigkeit eine irgendwie schlüssige literarische Form zu geben. Zwar hatte Wilde selbst ihn nicht zur unmittelbaren Veröffentlichung vorgesehen, doch mit der Weitergabe an Freunde verband er wohl die Absicht, damit auch ein ästhetisch-literarisches Testament zu hinterlassen. Trotzdem bleibt der Brief weitgehend auf dem profanen Niveau einer bissigen privaten Abrechnung. Endlos reihen sich über mehr als 200 Seiten die Beschuldigungen und Vorwürfe gegen Douglas. Immer wieder geht es um dessen Oberflächlichkeit, Hartherzigkeit und seine Verschwendungssucht auf Kosten Wildes. Die Klage mündet schließlich in der rhetorischen Frage:

Glaubst Du wirklich, dass Du zu irgendeinem Zeitpunkt unserer Freundschaft die Liebe wert warst, die ich Dir bewies, oder dass ich nur einen einzigen Augenblick lang dachte, Du wärst es? Ich wusste, Du warst es nicht.

Natürlich muss Wilde sich fragen, warum er sich überhaupt auf jemanden wie Douglas eingelassen hat. So wird die Klage über die verlorene und verratene Liebe zur eigenen Lebensbeichte. Zwar betrachtet Wilde sich selbstbewusst als den Künstler, der die „Kultur seiner Zeit symbolisierte“, denjenigen, der das „Denken der Menschen und die Farben der Dinge verändert“ hat. Doch erkennt er jetzt auch die Kehrseiten dieses Genies:

Es amüsierte mich, ein Flaneur, ein Dandy, ein Mann der Mode zu sein. Ich umgab mich mit den dürftigeren Charakteren und gemeineren Geistern. Ich wurde zum Verschwender meines eigenen Genies. Was für mich in der Sphäre des Denkens das Paradoxe war, wurde für mich in der Sphäre der Leidenschaft das Perverse. Begierde wurde am Ende zu Krankheit oder Wahnsinn oder beidem.

Aus dieser Einsicht heraus beschließt er, ein anderer, besserer Mensch – und Künstler zu werden, will sich an Christus orientieren, in dem er einen „Vorläufer der romantischen Bewegung“ sieht. Doch schließt sich an diesen recht kurzen Exkurs kein durchdachtes ästhetisches Programm an, vielmehr fällt Wilde bald wieder zurück in den Vorwurfs-Modus und wird nicht müde, den vormaligen Geliebten in jeder Beziehung abzuwerten. – Dass er dann am Ende aber laut über die Bedingungen eines Wiedersehens und einer Fortsetzung der Beziehung nach seiner Entlassung nachdenkt, macht den Brief vollends zum erschütternden Dokument einer emotionalen Kapitulation. – Literarisch jedoch kapituliert Wilde darin vielleicht in der Form, nicht aber in der Sprache. Wie schon in seinen Märchen wird sie um so schöner, um je traurigere Dinge es geht, und am schönsten, wenn es um die Sehnsucht nach Erlösung geht.

Ich zittere vor Wonne bei dem Gedanken, dass an dem Tag, an dem ich das Gefängnis verlasse, in den Gärten Goldregen und Flieder blühen und ich sehen werde, wie der Wind das wogende Gold des einen hin und her wiegt zu rastloser Schönheit und den anderen das blasse Lila seiner Federbüschel aufwerfen lässt, sodass die ganze Luft Arabien für mich sein wird.

WDR5 Bücher, 18. und 19. November 2023