Das Rätsel von Saint Sulpice

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Die in ihrer heutigen Gestalt im 17. und 18. Jahrhundert entstandene Kirche Saint Sulpice ist neben Notre Dame der größte und wichtigste Sakralbau von Paris und so von je her schon – auch durch seine Nähe zum Jardin du Luxembourg – eine touristische Attraktion. – Die Leute besuchen Saint Sulpice heute vor allem wegen des Gnomons, einem durch Dan Browns „Da Vinci Code“ berühmt gewordenen astronomischen Messinstruments. Wer aber kennt die deutschen Bezüge der Kirche, wer weiß, dass in ihr Heinrich Heine im August 1941 seine „Mathilde“ heiratete? Eine noch viel länger zurückliegenden Bezug der Kirche zu Deutschland hat der Kunsthistoriker Peter Kropmanns erforscht.

Es gibt viele Dinge an der Place Saint Sulpice, zum Beispiel ein Rathaus, ein Finanzamt, ein Polizeikommissariat, drei Cafés, ein Kino, eine Kirche, einen Verlag, ein Bestattungsunternehmen, ein Reisebüro, eine Bushaltestelle, ein Hotel, einen Brunnen, ein Zeitungskiosk, einen Devotionalienhändler und noch viele weitere Dinge.

So beginnt das merkwürdige Buch „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ des Schriftstellers Georges Perec. In ihm verarbeitet er die Beobachtungen, die er im Oktober 1974 an verschiedenen Tagen auf der Place Saint Sulpice von den drei unterschiedlichen Cafés aus machte. Seine Aufmerksamkeit war dabei auf das gerichtet, was er als „Mikro-Ereignisse“ bezeichnete, dem scheinbar belanglosen alltäglichen Geschehen wie der Ankunft oder der Abfahrt von Bussen. – Fünfzig Jahre später gibt es die Place Saint Sulpice natürlich immer noch. Allerdings ist sie heute weit weniger belebt als zu Georges Perecs Zeiten, gehört inzwischen zu einem sehr distinguierten Viertel voller Edelboutiquen und Luxushotels. Kino, Reisebüro und Bestattungsunternehmer sind verschwunden, von den drei Cafés ist nur eines übriggeblieben. Geblieben sind auch der Taxistand und die Bushaltestelle – und selbstverständlich gibt es immer noch den Brunnen und die Kirche, Saint Sulpice… – Für die gewaltige, mit ihren beiden Türmen den Platz dominierende Kirche Saint Sulpice interessierte Georges Perec sich seinerzeit überhaupt nicht. – Zu einer weltweiten Attraktion wurde die Kirche allerdings, nachdem 2003 „Der Da Vinci Code“ erschien und wenig später verfilmt wurde. Hunderttausende von schaulustigen Touristen drängten sich jetzt in Saint Sulpice, um dem Geheimnis des 1727 darin aufgestellten Obelisken auf die Spur zu kommen. 

(Peter Kropmanns) Es ranken sich einige Rätsel um diesen Bau und das fängt auch schon außen an, man erkennt das an gewissen Vermauerungen, an der Struktur der Fassade: Da sind Fenster vermauert worden, die zwischenzeitlich wohl eingebaut worden sind und wahrscheinlich nicht original dort vorhanden waren.

Auf der Straße an der Rück- bzw. Chorseite von Saint Sulpice ist Peter Kropmanns ganz anderen Geheimnissen auf der Spur. Er steht vor einem Anbau der Kirche, der Chapelle de l’Assomption, der Himmelfahrtskapelle. Auffällig und merkwürdig ist schon die Kuppelform ihres von einem bleiernen Pelikan gekrönten Glockendachs. Den halbrunden Bau umgeben seit jeher einige Rätsel, an deren Lösung der Kunsthistoriker geforscht hat.

(Peter Kropmanns) Ausgangspunkt dieser Forschungen war das außergewöhnliche Dach, das natürlich auch dem Grundriss folgt, dem ungewöhnlichen Grundriss. – Im Keller gibt es Fundamente, die darauf hinweisen, dass das Ganze eine sehr, sehr alte Geschichte hat und möglicherweise auf einem charnier errichtet worden ist, einem Beinhaus. So nannte man die Gebäude an Friedhöfen, in denen übriggebliebene Knochen und Skelette aufbewahrt worden sind. – Und dann hier die Vermauerung an der Ecke. Man sieht ja eindeutig, dass hier etwas passiert ist. Ein großes Portal ist hier zugemacht worden – es sieht jedenfalls so aus. Oder war es ein großes Fenster? Wir wissen es nicht. Man sieht auch an der Struktur der Mauern, dass hier recycelt worden ist, denn es gibt keine wirkliche Logik in der Mauer.

(Marc Berthé) La chapelle est normalement fermée au public car elle se trouve à l’extérieur de l’église proprement dite. Mais la messe y est célébrée tous les matins à sept heures. Parce qu’il y a un accès direct depuis la rue.

Die auch von einem Nebeneingang zugängliche Kapelle sei fürs Publikum normalerweise geschlossen, sagt Marc Berthé, der in Saint Sulpice für die Kunstführungen zuständig ist. Bloß morgens in aller Früh, um sieben Uhr, werde hier eine Messe gefeiert. – Nur schwach dringt das Orgelspiel aus der Hauptkirche in die fast runde Chapelle de l’Assomption. Die sich vom Dach hinunter bis in die Grundrisse fortsetzende Rundform wird auch durch die halbkreisförmige Bestuhlung des Raumes abgebildet.

(Peter Kropmanns) In jedem Fall erinnert das an einen Hörsaal oder auch an einen Versammlungsraum. Und das ist genau die Funktion dieser Kapelle gewesen. Es ging hier darum auch, Menschen zu versammeln.

Auf die baugeschichtlichen Ungereimtheiten der Kapelle kam Peter Kropmanns über die Frage ihrer Nutzung: Wer kam hier überhaupt hin? Im Nachgang dieser Fragen stieß er in den Archiven von Saint Sulpice auf eine kleine Sensation. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts trug die Chapelle de l‘Assomption nämlich noch einen anderen, inzwischen völlig vergessenen Namen, man nannte sie „Chapelle des Allemands“, Kapelle der Deutschen. Bis zur Französischen Revolution versammelte sich hier die kleine Gemeinde der in Paris lebenden Deutschen. Allerdings nicht nur zu Gottesdiensten…

(Peter Kropmanns) Wir gehen davon aus, dass das ein Treffpunkt war. Es gab eben früher ein großes Bedürfnis, seinesgleichen zu treffen, in der gleichen, in der Muttersprache zu sprechen, in dieser so fremden Stadt – ohne die Möglichkeiten, die wir heute haben. Die Leute waren damals weit weg von ihrem Vaterland, von ihrer Muttersprache. Von daher war man froh, dass man seinesgleichen treffen konnte. Man musste ja vielleicht auch eine Wohnung finden, wenn man nach Paris neu kam. Und das war dann natürlich am besten, indem man sich bei Landleuten erkundigt hat. Hat hier jemand einen Tip für ein Zimmer, eine Wohnung, – bis hin zur Frage der Berufsausübung, man brauchte ja einen Job.

Im Unterschied zum prächtig ausgestatteten Hauptbau wirkt das Innere der vormaligen Chapelle des Allemands recht schlicht – abgesehen von großformatigen Altarbildern aus dem 18. Jahrhundert und einer geschwungenen, aus Holz geschnitzten Kanzel. Höhepunkt im wahrsten Sinne ist ein großes Deckengemälde. Nur ist es leider vom Kerzenruß total geschwärzt und völlig unkenntlich und müsste dringend restauriert werden. Peter Kropmanns vermutet ein Meisterwerk unter dem Kerzenruß. Er hofft auf einen geschichtsbewussten Mäzen aus Deutschland, etwa ein großes, in Frankreich erfolgreiches Unternehmen. – Es wäre, glaubt er, ein schönes Zeichen der Erinnerung an die kleine deutsche Gemeinde, die sich hier vor mehr als 200 Jahren traf.

(Peter Kropmanns) Es waren wahrscheinlich sehr einfache Leute, Handwerker und Angestellte von reichen Familien, die hier in der Nähe ihre Häuser hatten. Es war so, dass es eine gewisse Wanderungsbewegung gab, immer schon, nach Frankreich hin, um dem strukturschwachen Gebiet zu entkommen, in dem man geboren ist. Zum Beispiel Hunsrück oder auch in der Eifel. Und manche sind dann eben auch nach Paris gekommen, weil deutsche Handwerker und deutsche Arbeiter gefragt waren. Es ist bekannt, dass Möbeltischler oft aus Deutschland kamen. Aber die haben auch als Kutscher gearbeitet, die haben als Concierge gearbeitet – und es war nichts, wo sich der Adel getroffen hat, das wäre zu unfein gewesen.

(Marc Berthé) Ce sont des gens qui travaillent, qui se lèvent tôt et qui doivent être au travail à huit heures ou huit heures et demie. Et ce sont des gens qui viennent juste de passer, mais plus probablement des gens du quartier ici ou des gens qui viennent travailler dans le quartier.

Die Tradition, dass die vormalige Chapelle des Allemands eine Kapelle des einfachen Volkes war, scheint sich erhalten zu haben. Die Tradition allerdings, dass sich vor allem Deutsche hier versammelten, brach mit der Französischen Revolution ab. Jetzt seien es vor allem Arbeitsleute aus dem Viertel, Menschen, die früh aufstehen müssten, die um sieben zur Frühmesse kommen, weiß der Kustos Marc Berthé. – Ansonsten aber liegt die Kapelle im Dornröschenschlaf, unentdeckt von den über die Place Saint Sulpice in die Kirche strömenden Touristenscharen. Lange auch unentdeckt von den Kunsthistorikern.

(Peter Kropmanns) Die Kapelle liegt ja außen, außerhalb des Kapellenkranzes. Wir haben es ja gesehen, wir mussten eine extra Tür öffnen, um dann in einen Gang zu kommen, vom dem aus dann wieder ein Gang in diese Kapelle führt. – Es ist auf jeden Fall so, dass die Tatsache, dass es hier diese Kapelle gab, ist lange in Vergessenheit geraten. Selbst bedeutende Kunsthistoriker haben das nicht gewusst, dass es diese „Kapelle der Deutschen“ gab. Weil die einfach ihre Bezeichnung geändert hat, ihren Namen gewechselt hat, weil das alles sehr lange her ist und weil man da eine Weile gebraucht hat, um das alles herauszufinden. – Ich habe etwas angestoßen, was andere dann vielleicht fortführen. Es wird vielleicht neue Dokumente geben: Dinge, die ich nicht gefunden habe, Dinge, die noch auftauchen. Eine spätere Generation wird dann möglicherweise mehr herausfinden und das Ganze enträtseln können.

DLF Sonntagsspaziergang 3. März 2024