Elsa Morante, La Storia

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In einer brillanten, zeitgemäßen neuen Übersetzung wirft der 1957 erschienene Roman „La Storia“ Elsa Morantes auch ein neues Licht auf die Geschichte des italienischen Faschismus. Zwar geht es in ihm in erster Linie um die Lehrerin Ida Ramundo, die sich und ihre beiden Söhne durch das von Faschismus und Krieg verheerte Rom durchschlagen muss. Doch es ist die Gewalt der historischen Verhältnisse – Armut, Rassenwahn, Deportation – die ihr Schicksal bestimmen.

Elsa Morante, La Storia. Roman. Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski. Wagenbach. 768 Seiten. 38 Euro

https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1403-la-storia.html

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/morante-la-storia-100.html

An einem Januartag des Kriegsjahres 1941 irrt ein betrunkener deutscher Soldat durch Rom, begegnet der nicht mehr jungen, verwitweten Grundschullehrerin Iduzza Ramundo und vergewaltigt sie. Weniger als neun Monate danach bringt Ida bei einer Hebamme heimlich – denn sie hat noch einen älteren Sohn, Nino – einen winzig kleinen Jungen zur Welt und nennt ihn Guiseppe. Vom ersten Augenblick an ist klar, dass es ein ganz besonderes Kind ist:

Es dauerte nicht lange, da öffneten sich die beiden Augen, so groß in dem winzigen Gesicht, als wären sie bereits verzaubert von dem Schauspiel, das sie erblickten. Und zweifellos verriet ihre Farbe genau jenes andere Blau, das nicht von dieser Erde zu kommen schien, sondern aus dem Meer.

Trotz seiner Zartheit erweist sich Giuseppe, der sich selbst Useppe nennt, weil er das „Giu“ noch nicht aussprechen kann, als frühreif. Er lernt sehr schnell laufen und sprechen und entwickelt eine außergewöhnliche, nahezu hellseherische Sensibilität. Er scheint ein Glückskind zu sein, neugierig und freudig lachend erschließt sich die Welt und erobert so das Herz seines älteren Bruders Nino. Auch Nino ist ein Glückskind, aber eines der wilden Sorte: Statt zur Schule zu gehen, treibt er sich zuerst mit dem faschistischen Schwarzhemden herum, wechselt zur kommunistischen Résistance und reüssiert schließlich als kleinkrimineller Schwarzmarkthändler. – Die Geschichte von Ida, Nino und Useppe, die Elsa Morante in ihrem berühmten, mit 600.000 verkauften Exemplaren meistgelesenen Roman Nachkriegsitaliens erzählt, spielt im Rom der Jahre von 1941 bis 1947 – und ist doch viel mehr als eine Familien- und Kriegsgeschichte. In epischer Breite und mit detailgenauer Präzision erzählt die Autorin auf fast 800 Seiten nicht eine, sondern die Geschichte schlechthin. La Storia. Nämlich die Geschichte der geschundenen menschlichen Kreatur. 

All das Gute und all das Böse, der Hunger, von dem einem die Zähne ausfallen, die Hässlichkeit, die Ausbeutung, der Reichtum und die Armut, das Unwissen und die Dummheit – all das betrachtete Santina weder als Gerechtigkeit noch als Ungerechtigkeit. Es sind einfache, verbürgte Zwangsläufigkeiten, für die es keinen Grund gibt. Sie akzeptiert sie, weil sie geschehen, und sie erduldet sie ohne Bedenken, wie eine natürliche Konsequenz der Tatsache, geboren zu sein.

Die alte Prostituierte Santina ist nur eine die vielen Dutzend Figuren, die neben Ida und ihren beiden Söhnen dem Roman Elsa Morantes die Breite und erzählerische Glaubwürdigkeit einer großen volkstümlichen Tragödie verleihen. Volkstümlich, nämlich sehr einfach, ist auch die Sprache der Erzählerin, die sich in der Tradition mündlicher Überlieferung immer wieder selbst als Zeugin des Erzählten einbringt. Und mit der Zwangsläufigkeit einer antiken Tragödie endet auch die Erzählung: Useppes merkwürdige Fähigkeit, die Zukunft erahnen zu können, erweist sich als Symptom einer tödlichen Krankheit. Mit fünf Jahren stirbt er beim dritten epileptischen Anfall, zwei Jahre, nachdem schon sein Bruder Nino bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Ida aber überlebt ihre Söhne.

Ich glaube aber, dass diese kleine senile Gestalt, an deren ruhiges Lächeln sich der eine oder andere im Psychiatrischen Krankenhaus von Rom noch erinnern kann, nur gemessen an der Zeit der anderen noch mehr als neun Jahre gelebt hat. Gleich einem Lichtreflex war das, was für uns neun Jahre dauerte, für sie die Zeit eines Pulsschlags. In Wirklichkeit war sie zusammen mit ihrem kleinen Useppe gestorben. An jenem Montag im Juni 1947 war die armselige Geschichte von Iduzza Ramundo zu Ende.

WDR5, Bücher 23. März 2024