Jean-Philippe Toussaint, Das Schachbrett

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Jean-Philippe Toussaint, Das Schachbrett. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. 253 Seiten. 19 Euro

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Der belgische Romancier wagt sich mit diesem Essay erstmals ins Gebiet autobiografischen Schreibens: Das Schachspiel dient dem ambitionierten Hobbyspieler dabei als roter Faden durch die Erinnerungen an seine Jugend und seinen Werdegang zum Schriftsteller.Max Frisch hat es schon 1947 mit seinem berühmten „Tagebuch mit Marion“ vorgemacht: Dass ein literarisches Tagebuch beides sein kann, – nämlich sowohl persönliche Aufzeichnung wie Quellensammlung für zukünftige Werke. Ähnliches kann auch dabei herauskommen, wenn sich ein Schriftsteller in einem öden Lockdown-Frühjahr hinsetzt und seine Erinnerungen aufschreibt. Jean-Philippe Toussaint wollte in jenem Frühjahr 2020 eigentlich eine Übersetzung von Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ins Französische schreiben. Es gelang ihm aber nicht, er schweifte ab, verlor sich an seine Erinnerungen, ordnete sie allerdings nach dem roten Faden „Schach“. Beim Erinnern heraus kamen jede Menge Geschichten, aus denen später vielleicht einmal Romane werden können. Zum Beispiel die Geschichte des Schachgenies Gilles Andruet, aus dem, nachdem Toussaint ihn kennenlernte, zuerst ein französischer Meister, am Ende aber halbkrimineller Zocker wurde, den die Glücksspielmafia zu Tode prügelte.

Schach und Literatur sind spätestens seit Wladimir Nabokov, der mehr Schachrätsel ersann als Romane schrieb, eng miteinander verbunden. Deshalb lag es für den belgischen Nabokov-Leser und Roman-Autor Jean-Philippe Toussaint nahe, in einem Essay über diesen Zusammenhang einmal intensiver nachzudenken. Einerseits tat er das, weil er selbst von Kindheit an Schach spielte. Andererseits, weil ihm der Stillstand im Corona-Lockdown des Frühjahrs 2020 dazu angetan schien, selbst innezuhalten und eine Nachdenk-Pause einzulegen.

Ich merke, wie ich seit Beginn des Lockdowns unaufhörlich in der Zeit zurückgeworfen werde, als würde ich von der Vergangenheit angehalten, deren schwache Rufe ich ständig aus der Ferne zu vernehmen glaube.

Da er aber, wie er weiter schreibt, zum Nachdenken immer ein „Projekt“ braucht, nimmt er sich vor, in dieser Nachdenkpause Stefan Zweigs „Schachnovelle“ vom Deutschen ins Französische zu übersetzen. Bei dieser Arbeit geht ihm auf, dass es Zweigs Helden, der in seiner erzwungenen Isolation gegen sich selbst Schach spielt und dabei eine Art Bewusstseinsspaltung erlebt, ähnlich geht wie ihm selbst:

Ich habe den Eindruck, dass ich diese Spaltung der Persönlichkeit, diese mentale Verdopplung, die die Figur Zweigs erfährt, hier in Brüssel von Beginn des Lockdowns an am eigenen Leib erfahre.

Ob es damit zu tun hat oder doch eher mit seinen unvollkommenen Deutschkenntnissen, – jedenfalls scheitert Toussaint an seinem Übersetzungsprojekt. Er gibt es auf und überlässt sich im weiteren Verlauf des Buches ganz seinen Erinnerungen, die aber weiterhin ums Schachspielen kreisen. Seine Leidenschaft für das Spiel erwachte während seines Studiums in Paris. Hier freundet er sich im Herbst 1979 in der Schachbibliothek des Centre Pompidou mit dem gleichaltrigen Gilles Andruet an, einem Schachgenie, der ein paar Jahre später französischer Meister werden wird. Das letzte, erzählerisch intensivste und spannendste Drittel von Toussaints Essay ist diesem Mann gewidmet, der das Zeug zu einer Romanfigur hat. Denn der immer in Geldnöten steckende Andruet spielte nicht nur Schach, sondern entwickelte für Kasino-Spiele eine Reihe dubioser Systeme und legte sich dabei offenbar mit einer Glücksspielmafia an. 1995 wurde seine Leiche in einem Fluss gefunden. Man hatte ihn mit einem Baseballschläger zu Tode geprügelt. Ein paar Jahre zuvor hatte er noch mit Toussaint in Paris Schach gespielt.

In einem Halo weißer Scheinwerfer sah man ihn am Steuer eines Sportwagens noch einmal am Théatre des Champs-Élysées vorbeifahren. Er blieb auf meiner Höhe stehen, ließ das Fenster herunter, beugte sich von seinem Sitz und winkte mir durch das offene Fenster zu, bevor er durchstartete. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.

Das Wort échec hat im Französischen eine Doppelbedeutung. Es heißt sowohl „Schach“ wie auch „Fehlschlag“ oder „Niederlage“. Jean-Philippe Toussaints Essay ist ein Buch über seine Schacherfahrungen und gleichzeitig das Protokoll über das Fehlschlagen seines Übersetzungs-Projekts der Schachnovelle. Außerdem bedient er seine Leser mit einem reichen Bouquet von Erinnerungen an seinen Werdegang als Schriftsteller. Dass ihm dabei die eine oder andere Eitelkeit unterläuft, werden seine Fans ihm sicher nachsehen. 

WDR5 Bücher, 4. und 5. Mai 2024