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Das in der Brüsseler Innenstadt, ganz nahe an der Grand Place gelegene „Theatre Royal de Toone“ ist als einziges Marionettentheater der Stadt eine viel besuchte, seit 1830 existierende Institution. Eine Institution ist es aber auch in sprachpolitischer Hinsicht: Es folgt dem in der letzten Zeit erwachten Interesse an der sprachlichen Vielfalt und der Wiederbelebung alter Dialekte. Und zwar finden hier in regelmäßigen Abständen Aufführungen in einem dieser Dialekte statt. Ich habe eine Aufführung in „Brussels Vlaams“ besucht, einem alten, aber in einigen Statteilen Brüssels immer noch gesprochenen flämischen Dialekt. Der Theaterdirektor Nicolas Geal hat mich in die Geschichte des Theaters eingeführt und der Sprachforscher Jean-Jaques de Gheyndt, hat mir bei einem Spaziergang durch das Brüsseler Viertel Marolles die Vielfalt der Brüsseler Dialekte erklärt.
Der kleine Zuschauersaal des Brüsseler Marionettentheaters „Royal de Toone“ ist mit 70 Besuchern bis auf den letzten Platz besetzt. Wie bei jeder Vorstellung. Dabei ist es für die Gäste ein Kunststück, den schmalen Theatereingang im Gewirr der historischen Innenstadt Brüssels überhaupt zu finden: Nur durch eine versteckte, enge Passage gelangt man ins Innere des aus dem 18. Jahrhundert stammenden Gebäudes, man muss einen Innenhof passieren und steile Treppen hochsteigen, bis sich dann im ersten Stock die Tür zum „Theatre Royal de Toone“ öffnet…
(Marionetten-Theater-Stimme Nicolas Géal) Dames en heren, goedemiddag! – Laten we dan nu beginnen met de “Draa Musketiers”. – Amuseret jij alle goed! …Geirabââ, geirabââ… Ah, Ah! Man beste spectateurs, saleû! Vandoeg goen de pouchenelle van Toone aïle ’n e schuun stuk presenteire! De Drââ Mousquetaîrs, van Alexandre Dumas, ne grûûte classééke van ons stukke van “kip kap et d’épée”! Mô, malheureusement, spaaïteg genoeg, krââk ik giene rol in da stuk. Want de vedet… da d’es ne zeïkere d’Artagnan. En da ’s giene gemakkelââke, zenne. Ah ja, ‘k moen aîle toch rappeleire da de Drââ Mousquetairs aigenlaïk gevéérent woêre. Ja, want, neïve d’Artagnan, woeren er ûûk Athos, Porthos en Aramis… allemoe gezwôôre kameroede.
Gegeben wird an diesem Samstagnachmittag die Marionettenspielfassung der „Drei Musketiere“ von Alexandre Dumas. Vier, manchmal fünf Marionettenspieler hinter der winzigen Guckkastenbühne bewegen mit rasanter Geschwindigkeit und professioneller Geschicklichkeit die Puppen, die d’Artagnan und seine drei Freunde Athos, Porthos und Aramis darstellen. – Gesprochen werden alle Rollen von Nicolas Géal, genannt Toone VIII., dem Besitzer und Theaterdirektor des Theatre Royale de Toone.
(Nicolas Géal) Les premiers Toones jouaient très probablement en bruxellois flamant. Le Brussels Vlaams, ce que vous avez entendu cet après-midi, du Brussels Vlaams. Donc un publique populaire parfois arrivé à Bruxelles pour travailler, qui commence à mélanger du français dans le dialecte local. – Donc on en était à ma grand-mère qui se faisait taper les doigts dans le cours de création parce qu’elle parlait le Brussels Vlaams, elle était obligé de parler néerlandais. Enfin ils ont commencé à installer le néerlandais standard et il est apparu le bruxellois Beulemans qui là est une allusion au «Mariage de Mademoiselle Beulemans» qui est une pièce de théâtre très connu à Bruxelles.
Weil bereits die ersten Aufführungen des Toone-Theaters sehr wahrscheinlich auf Flämisch gegeben wurden, spielen wir in der heutigen Aufführung auch im Brussels Vlaams, sagt Nicolas Géal: Es sei ein Brüsseler Dialekt, der entstand, als flämische Arbeiter in die Stadt kamen, das von der Mehrheit ihrer Bewohner gesprochene Französisch aufschnappten und in ihren Dialekt integrierten. Seine Großmutter habe es noch gesprochen und in der Schule Schläge deswegen einstecken müssen. Neben dem flämischen Brüsseler Dialekt sei dann aber auch ein französischer Brüsseler Dialekt entstanden, den man auch «Beulemans» nennt in Anspielung auf ein populäres Theaterstück «Die Hochzeit des Fräulein Beulemans».
(Marionetten-Theater-Stimme Nicolas Géal) Salêu! Aïe… manne neus, potverdekke! Ah, ah… Salêu on allemoe! ‘k Zaan neki content dak man schûûn casak, man schûûn Mousquetaîrs costum, gekreiege’n em! Ik ââ do al zou al lang gouste’n op! Mo, si, voilà, da mokt sebeet veul jaloûse… en ‘k em éé al ne rendez-vous mi ne zeïkere Bernajou! Ja, ‘k weï ni of da ge dââne kent. D’as zou ne fafoul, mi ne zeure smôôl! Enfin! As da ‘t schaïent as dat ‘em ma goed’en les gaive! En les van den escrim!
(Nicolas Géal) Mais donc, le premier s’appelait Antoine Genty, il était probablement néerlandophone à la base. Il a commencé dans les Marolles, forcément il parlait le dialecte Brussels Vlaams dans les Marolles. Le quartier que vous allez voir si vous allez au Petit Odéon, c’est un quartier un peu ouvrier, à la base très populaire de Bruxelles. Comme je vous ai dit, c’était á chaque fois des dialectes locaux différents. Maintenant il y a de nouveau un grand intérêt pour ce dialecte.
Der erste Besitzer und Theaterdirekter des Marionettentheaters hieß Antoine Genty, erzählt Nicolas Géal, – von ihm stamme auch der Name Toone, denn Toone ist die Koseform von Antoine. Alle nachfolgenden Theaterdirektoren hätten sich nach ihm benannt, bis zu ihm, dem jetzigen Toone VIII. – Das ursprüngliche Theater, sagt Nicolas Géal weiter, befand sich im proletarischen Stadtteil „Marolles“. – Damals habe man überall unterschiedliche flämische Dialekte gesprochen und wenn man beispielsweise aus Ostende oder Leuwen komme, verstehe man nichts davon. – Heute aber gebe es ein großes Interesse an diesen Dialekten.
(Jean Jacques De Gheyndt) Je dirais que la moitié des gens qui viennent chez moi comprend vraiment bien le Brussel-Vlaams.
Zu meinem Gespräch mit Theaterdirektor Nicolas Géal im Nebenraum des Theatersaals istJean-Jacques De Gheyndt hinzugekommen, ein pensionierter Informatiker. Die beiden sind befreundet und teilen das Interesse an der Brüsseler Sprachenvielfalt.
(Jean Jacques De Gheyndt) Dans cette moitié la plupart sont encore capable de le parler plus ou moins, mais ça devient rare. Dans la deuxième moitié ce sont des gens qui comme mon épouse ont entendu le Bruxellois flamand quand ils étaient petits. Mais ça c’est quelque chose qui ne se transmet plus aujourd’hui. Donc je pense qu’à terme ça sera bientôt une langue morte. – Mais il y a énormément d’intérêt aujourd’hui, disons ces derniers 10 années pour des livres qui décrivent à la fois le Bruxellois flamand, à la fois le Bruxellois français, des livres qui traduisent en Bruxellois flamand des textes bien connus ou des pièces e théâtre françaises qui sont traduits en Bruxellois flamand.
Die Hälfte der Menschen, mit denen er verkehre, verstehe das „Brussels Vlaams“ recht gut, erklärt Jean-Jacques De Gheyndt. Die andere Hälfte habe es – wie seine Ehefrau – in der Kindheit sprechen gehört. Aber diese Sprachkenntnisse verlören sich, eigentlich sei es eine tote Sprache. – Dem zum Trotz sei in den letzten zehn Jahren ein enormes öffentliches Interesse sowohl am Brussels Vlaams wie auch am Bruxellois français, dem französischen Dialekt-Pendant, entstanden: Immer mehr Bücher und Theaterstücke würden in diese beiden Sprachen übersetzt. – Ich habe mit Jean-Jacques De Gheyndt das Theatre Royale de Toone verlassen, wir überqueren die gleich gegenüberliegende prächtige Grande Place und spazieren in Richtung des Viertels Marolles, dem Ursprungsort des Brussels Vlaams. Auf dem Weg erklärt er mir den Unterschied zwischen diesem Dialekt und dem französisch-stämmigen Bruxellois français oder „Beulemans“.
(Jean Jacques De Gheyndt) Ce sont deux langues totalement différentes. Donc le Brussels Vlaams qui est la langue d’origine de la ville de Bruxelles, donc au Moyen-Âge on parlait le Brussels Vlaams de l’époque qui n’est pas exactement le même d’aujourd’hui bien entendu. Mais ça c’est vraiment du flamand, c’est un dialecte flamand qui fait partie des dialectes du Brabant. Les dialectes du Brabant c’est Bruxelles, c’est Louvain, c’est Malines, c’est Anvers et c’est Breda aux Pays-Bas. C’est une grande famille des dialectes flamands. Et donc là petit à petit, aussi au 19eme siècle des mots français sont venus se mettre dans le Bruxellois flamant mais ça reste du flamand. Tandis que le Bruxellois français c’est du flamand traduit en français. Donc ce sont deux phénomènes totalement différents. En fait ce phénomène est sociologique, ce sont des petites gens, le petit peuple de Bruxelles, donc des cafetiers, des brasseurs comme Monsieur Beulemans dans la pièce. Et on va les mettre à l’école francophone pour pouvoir accéder à un plus haut niveau socio-économique dans la vie.
Das seien zwei völlig unterschiedliche Sprachen, erklärt Jean-Jacques De Gheyndt. Das Brussels Vlaams sei eine Variante des Flämischen Dialekt, wie man es in ganz Brabant – also neben Brüssel auch in Leeuwen, Mechelen oder im niederländischen Breda spreche. Dahingegen sei das Bruxellois français ein Flämisch, das eins zu eins ins Französische übersetzt sei, ein Französisch mit flämischer Grammatik sozusagen. – Diese Übernahme des Französischen sei ein soziologisches Phänomen: Kleine Leute wie der Bierbrauer Monsieur Beulemans hätten damit versucht, sich zu etwas Besserem zu machen. – Inzwischen sind wir im Stadtteil Marolles angekommen. Auf der Rue de Haute, der Hauptschlagader des Quartiers unter dem mächtigen Justizpalast, passieren wir das Haus, in dem vor dem 2. Weltkrieg das „Theatre Royale de Toone“ untergebracht war. Eine Plakette erinnert daran und erklärt auch, dass das Haus durch eine Bombe zerstört und das Theater zum Umzug gezwungen worden sei. – Früher war Marolles ein proletarisches, ein Viertel der „kleinen Leute“. Dann wurde es zu einem Viertel der Gebrauchtwarenhändler – davon zeugt noch die Place du Jeu de Balle, auf der an jedem Wochentag ein Flohmarkt stattfindet. Jetzt aber ist das Viertel dabei, gentrifiziert zu werden: Die Gebrauchtwarenläden weichen immer edleren Antiquitätenläden. Entsprechend ändert sich die Wohnbevölkerung und es ist schwer, in den Kneipen noch Leute zu finden, die einen der Brüsseler Dialekte sprechen, – trotz des wachsenden Interesses an diesen Sprachen…
(Jean Jacques De Gheyndt) Il y a deux explications pour cet intérêt. Je vous ai dit tout à l’heure que les gens qui viennent suivre le cours sont des gens de 60, 70, 80 ans. Pour eux c’est une manière de rajeunir. Ça c’est je dirais une explication pour les individus. Mais aussi une explication politique. Tant du côté flamand que du côté francophone ou wallon en Belgique les autorités en charge de la culture font aujourd’hui la promotion du dialecte, organiser des activités dialectales et donner de l’argent á des personnes pour le faire.
Für dieses Interesse gebe es zwei Erklärungen, sagt Jean-Jacques de Gheyndt: Meistens gingen ältere Leute in die angebotenen Kurse, für sie sei das eine Art Verjüngungskur. Zum anderen förderten auch die Politiker – Flamen wie Walonen die Wiederbelebung der Dialekte, – das sei also auch ein politisches Projekt. – Wir sind ins „Theatre Royale de Toone“ zurückgekehrt, wo heute Abend die Bluesband „De Braave Joenges“ auftritt, die im Bruxellois français singt…
(Jean-Jacques De Gheyndt) Oui, c’est une utopie, oui et non. Je m’explique: A Bruxelles on est habitué d’avoir les deux langues depuis longtemps. Depuis longtemps ça fait un siècle plus. – Et ça c’est quelque chose que les francophones et les flamands, les Bruxellois flamands et les Bruxellois Francophones ont en commun. Et je trouve que cet esprit bruxellois d’humour – c’est un humour surréaliste – c’est un humour avec des exagérations absolument fantastiques où on mélange si possible deux langues dans l’explication, dans le dialogue. Et ça ça tient, ça unit les gens.
Auf meine Feststellung, dass es doch etwas Wunderbares sei, eine verwirklichte Utopie, dass in einem Land wie Belgien, dass von außen als in zwei oftmals einander feindlich gesinnte Sprachgruppen zerrissen erscheint, sich diese beiden Sprachen in ein bzw. zwei Dialekten friedlich vereinen, sagt Jean-Jacques De Gheyndt: Ja, einerseits sei das schon eine Utopie. Aber man solle die Brüsseler Besonderheit beachten, dass sich hier nämlich seit mehr als einem Jahrhundert beide Sprachgruppen aneinander gewöhnt hätten. Außerdem vereine beide Gruppen die gleiche Art des Humors, ein spezieller, die surreale Übertreibung liebender Humor: Das „Zwanze“…
(Géal) …Mais nous sommes des Zwanzologues… (De Gheyndt) …Des Zwanzeux, des Zwanzologues, oui oui, des spécialistes. C’est idiot mais c’est ça la base de cet humour, l’association de l’exagération. Et dernier element: si possible on va faire cette Zwanze, cette blague en mélangeant les deux langues.
Also erst im speziellen Brüsseler Witz des Zwanze, durch Assoziation und Übertreibung, sagen die beiden Kenner der Brüsseler Dialekte, komme es zu einer perfekten Mischung beider Sprachen.
DLF Sonntagsspaziergang 17. November 2024