Zu Heinrich Zilles und auch noch zu Franz Hessels Zeiten in den 1920er Jahren war der Berliner Stadtteil Wedding der Inbegriff von großstädtischer Verelendung. Das sollte sich in den 50er Jahren ändern, deswegen erfanden Stadt-Marketing-Menschen den Spruch „Der Wedding kommt“. Kommt er wirklich? Dieser Frage geht die dritte Folge meiner kleinen Reihe „Mit Franz Hessel durch Berlin“ nach.
Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten Hof, sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt von Menschen wohnt darin, aus dem ersten Hof dieses Musterbeispiels der Wohnverliese von gestern kommen durch den runden Torweg drei Burschen, einer mit einer Gitarre…
Schreibt Franz Hessel 1929 in „Spazieren in Berlin.
Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend wenigstens noch ein Gesicht. Wie die Menschen keine bunten Lumpen tragen, sondern abgeschabtes Bürgerkleid, so haben hier auch die Gebäude eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehen in endloser Reihe, Fenster an Fenster, kleine Balkone sind vorgeklebt, auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen.
(Paul Klever) Bei Franz Hessel kommt ja der Wedding, wird er als Ort beschrieben, wo Leute leben und arbeiten, die vielleicht nicht unbedingt so viel Glück und Wohlstand mit abbekommen haben.
Im heutigen Wedding unterwegs mit dem Berliner Stadtplaner Paul Klever.
(Paul Klever) Die Frage ist jetzt, ob der Wedding immer noch dieses Bild hat. Das kann man mit jein beantworten. Es ist sicher noch so, dass man im Wedding viele Situationen und Szenen vorfindet von Leuten, die am allgemeinen Wohlstand nicht so richtig teilhaben können. Es ist einer der größten Orte der Berliner Drogenszene mittlerweile.
(Briefträger) Die ist schon sehr lange hier, die Drogenszene, die wandert ja vom Spielplatz bis zu Leopoldplatz. Schon seit Jahren eigentlich. Ich würde sagen, zehn, zwölf Jahre mindestens schon. – Ich denke, viele werden nur weggucken, so wie sie den Müll, der überall auf der Straße hier liegt, den sie überall finden, der wird ja auch nicht mehr ernst genommen oder wahrgenommen. Die Leute schmeißen es irgendwo hin und niemand hebt irgendwas auf. Was soll man sagen? Es ist, als ob den Leuten das alles egal ist.
Der lang gestreckte Leopoldplatz bietet Raum für gleich zwei Kirchen – die Alte und die Neue Nazarethkirche, für viele Rasenflächen, Parkbänke und für mehrere Kinderspielplätze. Ein paar Meter von ihnen entfernt finden sich, durch Sichtschutzmauern abgeschirmt, die Container der Drogenhilfe Fixpunkt e.V. und Stellplätze für das inzwischen täglich hier aufkreuzende „Drogenkonsummobil“. Denn der Leopoldplatz ist ein Treffpunkt von Konsumenten harter Drogen.
(Paul Klever) Ich würde sagen, dass man das mittlerweile so erkennen kann, dass es nicht mehr schwarz und weiß gibt. Es gibt nicht mehr so den nur schlechten Ort und es gibt keine nur guten Orte. Sondern was den Wedding ausmacht, ist das totale Nebeneinander von unterschiedlichen Szenen und Situationen. Das wird ganz deutlich, wo die Orte, wo die Drogenszene direkt gegenüber von nem Spielplatz oder einem Kindergarten angesiedelt sind. Und dieses Nebeneinander tatsächlich auch funktioniert. Also es wird sich wirklich auch mit Respekt begegnet und man kann nebeneinander existieren.
Also wir haben hier schon viele Drogensüchtige und viele Leute, die Hilfe brauchen, aber wir versuchen, das Beste gerade aus dem Platz zu machen und neue Möglichkeiten zu schaffen für die Leute.
Die Kellnerin des „Café Leo“, einem kleinen, nach allen Seiten und für alle Besucher offenen Glasbungalow mitten auf dem Leopoldplatz.
(Kellnerin) Wir haben hier zum Beispiel einen Info-Guide aufgestellt, der ist zuständig für die Toilette, damit die Toilette nicht mehr so verwüstet ist. Kann man sich den Schlüssel abholen. Dann haben wir mehrere Platz-Teams, – da gibt ein Platz-Team, da gibt’s einen Platz-Dienst, dann gibt’s noch einen Kiez-Hausmeister, der ist dafür zuständig, dass hier Ordnung auf dem Platz herrscht. Also es wird besser ein bisschen.
(Franz Hessel) Um eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muss man in die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den traurigeren zweiten, man muss die blassen Kinder beobachten, die da herumlungern und auf den Stufen zu den Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet hat.
(Paul Klever) Wir befinden uns in einer ganz, ganz typischen Berliner Blockrandbebauung, im Innenhof davon, wir sind gerade über die Hochstätter Straße in einen Park, der in diesen Innenhöfen angelegt ist, reingelaufen.
Es gibt sie immer noch, die von Franz Hessel beschriebenen Mietkasernen mit ihren bis zu drei, vier immer düsterer werdenden Höfen. Hier aber lichten sie sich zu einer gepflegten Grünanlage.
(Paul Klever) Das ist das Ergebnis der Stadtplanung der 80er Jahre, der behutsamen Stadterneuerung, wo man eben dann durch die Entdichtung von Quartieren geschaffen hat, dass es mehr Freirumversorgung für die Nachbarschaft gibt. Hier wurde der Zugang über eine Baulücke – ein Haus fehlt in der Straße – dadurch sind wir in den Innenraum reingekommen. Mittlerweile haben sich auch die umliegenden Häuser relativ gut saniert. Viel Gestaltung durch kuratiertes Graffiti auch. Das war nicht immer so, dass diese heruntergekommenen bürgerlichen Fassaden, die hat man bis in die 80er Jahre hier noch stark vorgefunden, und das war auch der Anlass, warum man diesen Teil hier zum Sanierungsgebiet erklärt hat. – Jetzt stehen wir in der Groninger Straße und wenn wir nach rechts gucken, sehen wir ein über drei Blöcke sich erstreckendes gelbes altes Backstein-Fabrikgebäude, das ist die ehemalige Osram-Glühbirnenfabrik. Die sinnbildlich dafür ist, dass der Wedding immer eine Mischung war aus einem Wohnquartier für Arbeiter, aber eben auch als Industriestandort. Viele Fabriken sind in der zweiten Welle der Industrialisierung Berlins an den damaligen Stadtrand, in den Wedding, gezogen: AEG, Borsig, eben auch Osram. Später dann wieder weitergezogen, so wie Osram jetzt in Spandau ist. Aber das ist eben das Charakteristikum des Wedding immer noch: Die Industriebauten neben Wohnungsbau, und heute dann viel Platz dann für die Ansiedlung von kreativen Nutzungen, z.B. in den Osram-Höfen ist jetzt eine hippe Craft-Beer-Brauerei drin, Künstlerateliers.
Schon seit den 50er Jahren kreist in Berlin der Spruch, dass „Der Wedding kommt“. Der Berliner Stadtplaner Paul Klever ist da nicht ganz so optimistisch.
(Paul Klever) Es gibt viele Zeichen dafür, dass er im Kommen ist. Ob er jemals ganz ankommt, das wage ich mittlerweile ganz zu bezweifeln. Aber es gibt viele Leuchttürme und kulturelle Orte und viele Kleinode, die man eben hier auch findet.
DLF Sonntagsspaziergang 8. Juni 2025