Celia Fremlin, Onkel Paul. Roman. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet. Dumont-Verlag. 304 Seiten. 22 Euro.
Bis in die 90er Jahre füllten in der berühmten schwarz-gelben Krimireihe des Diogenes-Verlags die Romane von Celia Fremlin die Regale. Sie bedienten das durch Patricia Highsmith bekannt gewordene Genre des Psychothrillers. Die Titel hießen entsprechend etwa: „Gibt’s ein Baby, das nicht schreit?“, „Rendezvous mit gestern“, „Vaters Stolz“, „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“. Die 1914 geborene und 2009 gestorbene Celia Fremlin war vor allem in den 1950er Jahren sehr produktiv. Der Dumont-Verlag hat die Autorin jetzt wiederentdeckt und nach dem Roman „Der lange Schatten“ nun auch den 1959 geschriebenen Krimi „Onkel Paul“ neu übersetzen lassen.
Nur selten nimmt sich eine Katastrophe schon ganz am Anfang als eine Katastrophe aus. Fast immer ist sie in den frühen Stadien eher ein Ärgernis; eine dieser lästigen Störungen, die so missliebig auftauchen, gerade wenn das Leben reibungslos und angenehm verläuft.
Dieser erste Satz des Romans könnte programmatisch für die gesamte Gattung einer ganz speziellen Suspence-Literatur gelten, für die an erster Stelle Patricia Highsmith und eben auch Celia Fremlin steht, die von der Sunday Times einmal als die britische Patricia Highsmith beschrieben wurde: Quasi aus dem Nichts, aus einem scheinbar reibungslos funktionierenden Alltag heraus baut auch dieser Roman ganz allmählich eine immer intensivere psychologische Spannung auf.
Mildred braucht Hilfe. Bitte komm. Isabel
Das Telegramm ruft Meg, die Protagonistin von „Onkel Paul“, aus ihrem Londoner Alltag und führt sie in den fiktiven englischen Badeort Southcliff, wo ihre Schwester Isabel mit ihren beiden Kindern Strandurlaub macht. Dort erfährt Meg, dass Isabel sich um ihre gemeinsame, deutlich ältere Halbschwester Mildred sorgt: Um in Isabels Nähe zu sein, hat sie in Küstennähe ein Cottage gemietet. Wie sich jetzt herausstellt, ist es eben das Cottage, in dem sie vor 15 Jahren mit ihrem Mann Paul die Flitterwochen verbrachte.
Eine zufällige, aber keine gute Wahl. Denn kurz nach ihrer Hochzeit kam heraus, dass Paul ein Bigamist ist, der seine erste Frau ermordete, um an ihr Erbe zu kommen. Dafür wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt. Diese 15 Jahre sind nun um. Und die Schritte, die Mildred nachts vor dem Cottage hört: Muss das nicht der gerade aus dem Gefängnis entlassene Paul gewesen sein, der ums Haus schlich, um sich an Mildred zu rächen? Doch Mildred wehrt das ab und dreht den Spieß um. Wenn, dann wird er sich an Meg rächen wollen, denn schließlich war sie es, die den von ihr als Kind verehrten, charmanten „Onkel Paul“ auf einem alten Zeitungsfoto als gesuchten Gattenmörder entdeckte.
„Du kannst hier nicht bleiben, Meg! Verstehst du nicht? Du bist in großer Gefahr! Du hast doch Paul verraten“, sagte Mildred. „Aber Mildred“, Meg suchte nach Worten. „Ich wusste doch nicht, was ich getan hab. Ich war doch noch ein Kind. Ich konnte zu der Zeit kaum lesen. Aber du, du hast verstanden, worum es ging, du bist damit zur Polizei gegangen.“ „Aber du warst es, die ihn entdeckt hat“, wiederholte Mildred stur.
Und so erwächst, ganz genrespezifisch, aus einer – vielleicht auch nur eingebildeten? – äußeren Gefährdung ein Familien-Psychodrama. Die erzählerische aufgebaute Spannung wird von der Handlungsebene immer mehr ins Innere der Protagonistinnen verlegt. Patricia Highsmith hätte aus diesem zwar etwas mühsam konstruierten, aber immerhin spannungsvoll angelegten Plot sicher einen abgründigen Thriller gemacht. Celia Fremlin gelingt das in diesem Roman leider nicht so ganz. Ihre Charaktere, selbst die leicht hysterische Mildred, besitzen keine echte Tiefe, geschweige Abgründe, sind weitgehend harmlos. Trotz einer überraschenden Wendung am Schluss versandet und verebbt die Spannung langsam aber sicher im Gerede ihrer Protagonistinnen. Auch die recht künstlich implantierten äußeren Spannungselemente oder das abrupte Auftauchen von Megs Freund Freddy, der Onkel Paul zum Verwechseln ähnlich sieht, retten den Roman nicht aus der Belanglosigkeit einer rasch vergessenen Sommerlektüre. Erfrischend allein bleibt die handfeste Pragmatikerin Meg, deren Charakter immerhin so angelegt ist, dass aus „Onkel Paul“ ein echter Psychothriller hätte werden können.
„Natürlich wäre ich nicht zur Polizei gegangen! Ich hätte die ganze Angelegenheit unter den Tisch gekehrt und gelogen, dass sich die Balken biegen. Und wenn ein weiterer Mord nötig gewesen wäre, um ihm zur Flucht zu verhelfen, hätte ich ihn begangen. – So!“
WDR3 Westart Lesen 12. Juli 2025