Mike Johansen, Die Abenteuer von MacLayston, Harry Rupert und anderen. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johannes Queck. Secession-Verlag. 235 Seiten. 25 Euro.
Mike Johansens Roman war 1925 in der Ukraine ein Bestseller. Denn er entsprach, weil er sich formal stark an die westeuropäische literarische Avantgarde anlehnte, dem Wunsch des ukrainischen Publikums nach einer eigenen, sich von der sowjetrussischen abgrenzenden Kultur. Allein schon die Entscheidung Johansens für die ukrainische Sprache war ein politisches Programm. Er stammte aus einer deutschstämmigen Familie und schrieb zunächst in Deutsch oder Russisch. Zu Beginn der 20er Jahre gehörte er Kulturvereinigungen an, die die Idee einer ukrainischen Hochkultur verteidigten. – Seine jetzt im Seccesion-Verlag in deutscher Übersetzung erschienenen Romane schließen sich der westeuropäischen Moderne an, experimentieren humorvoll und ironisch mit Sprache, Stil und unterschiedlichen Genreformen. – Die ukrainische Literaturbewegung, der Johansen angehörte, nennt man heute die „Erschossene Renaissance“: Im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ wurden im Spätherbst 1937 1.111 ukrainische Künstler erschossen. Darunter 300 Schriftsteller. Johansen war einer von ihnen. – Von 1930 bis 1937 lebte er in Charkiw im berühmten Schriftstellerhaus SLOWO („Wort“). Das geriet wieder ins öffentliche Bewusstsein, als es im März 2022 von russischen Bomben beschädigt wurde. Hier verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit…
Die Hauptfigur des Romans ist – Martin, vermutet der Leser. Vielleicht ist es aber auch Duval. Vielleicht auch Edith, Harry, Mr. Layston, Camilla …. Nein, lieber Leser! Alle genannten Personen sind nicht die Hauptfiguren des Romans. – Die Hauptfigur, der wichtigste Held dieses Romans ist – sein Autor.
Okay. Die Vermutung, die sich beim Lesen dann allerdings einstellt, ist, ob dieser Autor noch alle Tassen im Schrank hat. Oder, vorsichtiger gefragt, ob er geistig in der Lage war, bei der Niederschrift den Überblick über seine Figuren und vor allem über die Handlung zu behalten. Denn der Leser, in dem Fall also ich, hatte ziemliche Mühe, ihr einigermaßen folgen zu können, der Handlung. Und auch den Überblick über die Identität der Figuren des Romans zu behalten, war recht mühsam, denn der Autor wechselt oft ankündigungslos ihre Namen. – Dann aber erfuhr ich, dass der Autor, Mike Johansen, seinerzeit, also in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, zur literarischen Avantgarde der Ukraine gehörte. Und dass die es bevorzugte, überkommene Erzähltraditionen über Bord zu werfen, etwa die Kontinuität der Haupt-Handlung durch gewagte Schnitte ständig zu unterbrechen. – Da mir dieser Mut zur Neuerung imponiert, versuchte ich, ein bisschen konventionelle Ordnung in seine Geschichte zu bringen, – und siehe da: Sie funktioniert! – Sie beginnt mit einem Gespräch zwischen dem amerikanischen Milliardär und Chemie-Industriellen Layston und seiner Tochter Edith.
„Papa, warum gibt es in Russland Hunger?“ Mr. Layston war überrascht. „Hunger … Den Hunger in Russland haben die Bolschewiken verursacht, sie haben den Bauern das Korn genommen.“ „Und warum habe ich dann in einer Zeitung gelesen, dass es den Hunger nicht gäbe, wenn die europäischen Staaten die Kriege in Russland nicht unterstützen würden?“ „Ich sehe schon, du liest zu viel“, sagte MacLayston ärgerlich und schwieg.
Allerdings kommt die kluge und neugierige Edith dahinter, dass ihr Vater an den Lebensmitteltransporten der „American Relief Administration“ ARA, die hauptsächlich nur die antibolschewistische Weiße Armee mit Lebensmitteln beliefert, Millionen verdient. So schifft sie sich unter falschem Namen auf einem der ARA-Frachter Richtung Russland ein. – Zur gleichen Zeit läuft in Marseille ein Dampfer Richtung Kongo aus, an Bord sind ein Zirkusartist und ein früherer französischer Offizier. Im Kongo haben sie den Auftrag, für den Pariser Nachtclubbesitzer Duverrier Affen zu fangen. Denn der betreibt in seinem Club „Zum blauen Affen“ eine erotische Schau, in der neben der Tänzerin Camilla lebende Affen die Hauptattraktion sind. Da der letzte verbliebene Affe an Syphilis erkrankt ist, muss dringend Nachschub her.
Die erkennbar nach dem Vorbild von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ beschriebene Expedition endet dramatisch mit dem Tod der beiden Franzosen. Einziger Überlebender ist ein kommunistischer Matrose namens Martin, der, zurückgekehrt nach Europa, die inzwischen von einem der Angestellten ihres Vaters, einem gewissen Dr. Jim Reep, gekidnappte Edith befreit. Womit eine Verbindung zwischen den beiden Erzählsträngen hergestellt ist und die Leser im Weiteren dem skrupellosen Dr. Reep in die Sowjetunion folgen können. Dort versucht er, ein von ihm gestohlene Rezept für ein künstliches Protein zu Geld zu machen. Denn hier herrscht infolge des Bürgerkriegs unvorstellbarer Hunger.
In der Nähe des Charkiwer Bahnhofs sah der Doktor die ersten Hungernden. Zwei oder drei gelbe, zerlumpte Männer, die ihre Hände ausstreckten und um Essen bettelten. Der interessierte Doktor holte sein Taschentuch vor und warf es einem der Hungernden aus sicherem Abstand hin. Dieser nahm das Taschentuch und steckte es in seine Tasche. „Er hebt es sich fürs Abendessen auf“, entschied der geschätzte Doktor. Er versuchte, den Hungernden mit Zeichensprache zu ermuntern, das Taschentuch sofort zu essen, aber der Hungernde machte eine dumme Physiognomie und verbeugte sich lediglich noch einmal.
Mike Johansens 1925 geschriebener Roman ist nicht nur ein avantgardistisches Experiment, er ist gleichzeitig, und das schließt sich keineswegs aus, eine scharfe Satire auf den menschenverachtenden Kapitalismus. Dazu benutzt er alle Mittel – von Anspielungen auf literarische Vorgänger wie Joseph Conrad oder Jack London bis hin zur Sprache und den trivialen Mustern der damals gängigen Groschenhefte um den amerikanischen Detektiv Nat Pinkerton. Die jetzt wiederentdeckte ukrainische Literatur der Zwischenkriegszeigt zeigt sich mit Mike Johansen absolut auf der Höhe ihrer Zeit und ist immer noch ein zwar riskantes, mitunter sehr witziges und am Ende allemal lohnendes Lese-Abenteuer.
WDR3 Westart 23. Juli 2025