Kate Atkinson, Nacht über Soho

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Kate Atkinson, Nacht über Soho. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Dumont. 528 Seiten. 25 Euro

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Nellie Cokers Imperium im Londoner Vergnügungsviertel Soho besteht aus einem halben Dutzend gut gehender Nachtclubs. Ihr Reich wird von Mafiosi und korrupten Polizisten bedroht. Kate Atkinsons Roman „Nacht über Soho“ greift reale Verbrechen aus Londons Roaring Twenties auf.Eine ganze Generation jüngerer britischer Schriftstellerinnen hat sich auf den Pfad begeben, den die großen Ladies of Crime – Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Patricia Wentworth und P.D. James vorgegeben haben. Allerdings verlassen sie dabei das klassische Krimi-Genre, wählen für ihre Plots oft historische Settings und versuchen sich in einer Mischung aus Krimi und historischem Gesellschaftsroman. Auch Kate Atkinson hat sich in ihrem neuen Buch wieder einen historischen Stoff ausgesucht, eine Verbrechensserie im London der Roaring Twenties. Dabei griff sie, wie sie im Nachwort schreibt, auf eine reale Figur zurück, auf die Nachtclubbesitzerin Kate Meyrick, die wie ihre fiktive Hauptfigur Nellie Coker über ein Imperium illustrer Clubs herrschte. Beim Schreiben, heißt es weiter in ihrem Nachwort, hat sie viel von Kate Meyricks 1933 erschienener Autobiografie gelernt und daraus einen facettenreichen historischen Krimi gemacht.

Sie machte sich auf den Rückweg in die Hanover Terrace und fühlte sich beschwingt von so viel falschem Spiel. Es war ein Genuss. Azzopardi täuschte sich, wenn er glaubte, dass Nellie nicht mehr hungrig war. Nellie beabsichtigte zu schlemmen.

Als Nellie Coker nach sechs Monaten Haft wegen Schankbetrug aus Holloway Prison entlassen wird, sieht sie ihr Reich sowohl von korrupten Polizisten wie von habgierigen Mafiosi wie Azzopardi bedroht. Ihr Reich, das ist ein halbes Dutzend sehr gut gehender Nachtclubs im Londoner Amüsierviertel Soho. Hier geben sich in den Roaring Twenties auch der Adel und das halbe Parlament den Genüssen des Nachtlebens hin. Und die bestehen außer aus Champagner und Kaviar-Häppchen aus dem Heer von Tänzerinnen, das aus ganz Großbritannien auf die Bühnen eben jener Nachtclubs strömt. Zu ihnen gehört auch Freda, eine gewitzte 14-jähige, die aus dem heimatlichen York abgehauen ist und nach einem Horrortrip durch Londons Unterwelt schließlich in der Revuetruppe von Nellie Cokers Lieblingsclub „Amethyst“ landet. – Aus York stammt auch die Bibliothekarin Gwendolen Kelling. Eine Freundin, Fredas Tante, hat sie gebeten, in London nach dem verschwundenen Teenager zu suchen. Dabei landet sie bei Chefinspector Frobisher. Der hat gerade eine Mordserie an jungen Mädchen aufzuklären, deren Leichen am Dead Man’s Hole unter der Tower Bridge angeschwemmt werden. Frobisher sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Toten und dem Tänzerinnen-Business der Nachtclubs. Da kommt ihm Gwendolen gerade recht.

„Infiltration, Chief Inspector?“ „Nun, ich weiß nicht, ob ich dieses Wort benutzen würde. Es klingt ein bisschen dramatisch – vielleicht wäre ‚auskundschaften‘ zutreffender. Nur für einen Abend, Miss Kelling. Im ‚Amethyst‘.“

Und so kreuzen sich zwei der vielen Erzählstränge in Kate Atkinsons Roman. Die Autorin ist berühmt-berüchtigt für ihr Erzählen mit einem breit angelegten Netz von Parallelhandlungen, die sie am Schluss ihrer Romane ebenso kunstvoll wie spannend zusammenzuführen pflegt. In „Nacht über Soho“ ist es der eine oder andere Erzählstrang zu viel. Das führt dazu, dass deren Zusammenschluss am Ende dann doch nicht ganz so kunstvoll und spannend gerät. Der Überschuss an Parallelhandlungen ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Nellie Coker sechs erwachsene Kinder hat. Jedem einzelnen widmet Kate Atkinson einen eigenen Erzählstrang, – obwohl nur zwei von ihnen mit Nellies Geschäften zu tun haben. Die übrigen Erzählstränge fallen außer auf Gwendolen und Frobisher auf die zahlreichen Feinde Nellies. Einer von ihnen, der Polizist Maddox, betreibt einen Prostitutions-Ring und ist tief in den Mord an den jungen Mädchen verstrickt.

„Was für zwei Mädchen?“ Oakes schaute in sein Notizbuch. „Florence Ingram und Freda Mugatrouyd. Das Ingram-Mädchen wird vermisst. Nicht nur Frobisher sucht nach ihr, die kleine Freda fragt auch herum“. „Diese Freda“, sagte Maddox nachdenklich, „ist sie ein Problem?“ „Keins, das nicht gelöst werden kann, Sir.“

Die verwirrende Vielzahl an Erzählsträngen ist nicht nur Kate Atkinsons erzählerischer Ambition geschuldet, einen kunstvollen Plot zu konstruieren. Ebenso verdankt sie sich ihrem Ehrgeiz, das Londoner Milieu der Wilden Zwanziger historisch adäquat und seine schillernde Vielfalt lebendig zu beschreiben. Das ist ihr gut gelungen, die Leser bekommen ein sehr anschauliches Bild des Neben- und Ineinanders von Vergnügen und Verbrechen in dieser Zeit. Was allerdings auch ein wenig auf Kosten der Tiefenschärfe ihrer Charaktere geht. Wie gerne wäre man hinabgetaucht in die Abgründe der köstlich schwarz angelegten Nellie Coker, die auch mit ihren jüngsten Sohn Ramsay Schlitten zu fahren versteht.

„Ich gehe raus, frische Luft schnappen“, sagte Ramsay zu Nellie. „Du warst gerade an der frischen Luft.“ „Sie ist nicht rationiert, Ma.“ „Sollte sie aber sein“, sagte Nellie.

WDR3 Westart 6. August 2025