Salman Rushdie, Die Elfte Stunde. Fünf Erzählungen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag. 288 Seiten. 26 Euro
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Mit dem Attentat, das im August 2022 auf ihn verübte wurde und das ihn schwer verletzte und ein Augenlicht kostete, setzte sich Salman Rusdie bereits in seinem 2024 auf Deutsch erschienenen, weitgehend autobiografisch getönten Buch „Knife“ auseinander. Darin berichtete er minutiös vom Verlauf des Attentats selbst, unterzog den Täter einer, wenn auch fiktiven Befragung und stellte darin die Lächerlichkeit seiner Motive bloß. Es war ein selbsttherapeutisches Buch, mit der er sich mit sehr viel Witz auch über sich selbst lustig machte. – Nicht weniger Witz hat nun die sozusagen literarische Aufarbeitung des Attentats, als die man diese fünf Erzählungen betrachten muss. In Ihnen setzt sich Salman Rushdie mit der Grenze zwischen Leben und Tod auseinander. Und dass die mühelos überschritten werden kann, sollte bei einem Autor, der so heiter den Umgang mit der Magie pflegt, nicht verwundern.
Tod und Leben waren nur angrenzende Veranden. Senior stand auf der einen, wie er es immer getan hatte, und auf der anderen setzte Junior ihre viele Jahre alte Tradition fort, Junior, sein Schatten, sein Namensvetter, und stritt mit ihm.
Die Sache ist nämlich, dass der wirkliche Junior tot ist, vor einiger Zeit bei einem Unfall gestorben. Nun setzt sein Schatten das fort, was Junior und Senior, zwei alte Männer, lange Zeit verband: Nebeneinander auf zwei angrenzenden Veranden zu stehen und miteinander über Gott und die Welt zu streiten. – Schon die erste der fünf in diesem Buch versammelten Erzählungen setzt das Thema: Es geht um den Tod und um die Annäherung an ihn in der letzten, der „Elften Stunde“ des Lebens. Und es geht, wie von Salman Rushdie trotz seiner 78 Jahre nicht anders zu erwarten, um die Magie: Um einen sprechenden Schatten wie in der Eingangserzählung „Im Süden“ oder um die Zauberkraft der Musik wie in der nachfolgenden, „Die Musikerin von Kahani“. In dieser Geschichte zeigt sich Salman Rushdie als begnadeter Satiriker. Gespickt mit selbstironisch-autobiografischen Zwischenbemerkungen und in ständiger Kommunikation mit dem Leser – „Was meinen Sie?“ – erzählt er wie in einer Bollywood-Schmonzette die Geschichte des musikalischen Wunderkindes Chandni, das sich mit vier Jahren zum ersten Mal an ein verstaubtes Klavier setzt.
Sie kraxelte auf den Hocker und begann einfach zu spielen. Ihre erstaunten Eltern kamen ins Zimmer und sahen zu, als geschähe vor ihren Augen ein Wunder. Nach wenigen Minuten hörte das kleine Mädchen auf zu spielen, drehte sich zu ihnen um und sagte: „Es muss dringend gestimmt werden.“
Natürlich wird aus dem Wunderkind eine weltberühmte Pianistin und, weil die Geschichte in Indien spielt, eine noch begnadetere Sitar-Spielerin. Doch bald schon bricht ihre Familie auseinander: Der Vater verfällt einem Guru, in dem man sofort eine Parodie Oshos erkennt, dem in den 1980er Jahren bekannten Gründer der Bhagwan-Bewegung, und Chandni verliebt sich in einen schönen Banausen. Dessen Familie – ein von Rushdie äußerst satirisch dargestellter – ultrareicher Industrie-Clan, versucht die Geburt ihres Kindes so zu instrumentalisieren, dass Chandni der Kragen platzt. Am Ende benutzt sie die Zauberkraft ihres Sitar-Spiels dazu, sich grausam zu rächen. – In den fünf in „Die elfte Stunde“ versammelten Geschichten präsentiert Salman Rushdie die ganze Fülle seiner Themen und vor allem seine überragende Erzählkunst: Fantasievoll und verspielt entfaltet er seine Stoffe und bringt gleichzeitig den Lesern sehr liebevoll seine Figuren so nahe, dass sie am liebsten mit ihnen leben und notfalls auch leiden möchten. Jedenfalls so lange sie noch leben. Das ist nämlich in der berührendsten Geschichte, „Saumselig“, nicht der Fall.
Als Ehrenfellow S.M. Arthur in seinem dunklen College-Schlafzimmer aufwachte, war er tot, was anfangs jedoch nichts zu ändern schien. Er fühlte sich jedenfalls ganz gewiss nicht tot; eigentlich fühlte er sich sogar ungewöhnlich fit und sah dem Tag freudig und ausgeruht entgegen.
So spukt denn der „Ehrenfellow“ Arthur, der in seinem englischen College gratis leben durfte, weil er vor 40 Jahren einmal einen berühmten, in Indien spielenden Roman geschrieben hat, fortan als Geist umher. Bis eine indische Studentin namens Rosa ihn erkennt und mit ihm ins Gespräch kommt. Ihre gemeinsame Liebe zu Indien bringt sie näher und Arthur dazu, ihr sein Geheimnis anzuvertrauen – und damit auch den Grund, warum er über seinen Tod hinaus weiterleben muss: Nämlich um sich am Leiter des Colleges, Lord Emmemm, für eine an ihm begangene Untat zur rächen. Sobald dies in die Wege geleitet ist, verabschiedet sich der Ehrenfellow endgültig. Rosa ist dabei und beobachtet, wie er in einem Kahn an ihr vorüberfährt.
„Wohin geht die Reise, Chacha Arthur?“ rief sie ihm nach. „Wohin schon?“, rief der Ehrenfellow zurück. „Nach Avalon.“ Dann verschwand der Kahn unter der Brücke und tauchte auf der anderen Seite nicht wieder auf.
WDR3 Westart & Resonanzen, 12. November 2025