Dass die deutsche Erinnerungskultur eine Kultur des Vergessens sei, wie die in Berlin lebende jüdisch-amerikanische Aktivistin Samantha Carmel behauptet, stimmt nicht. Nach der auf Verdrängen zielenden „Vergangenheitsbewältigung“ der Nachkriegszeit und aufgerüttelt durch das kritische Geschichtsbewusstsein der „68er“ hat sich in Deutschland eine Erinnerungskultur entfaltet, die ihren Namen verdient. Das lässt sich an den zahllosen und oft heftig geführten Debatten über die Art und Weise ablesen, wie, wo und wann dieses Erinnern – vor allem natürlich an den Holocaust und die Naziherrschaft – gestaltet werden soll.
Eine solche, und zwar sehr emotional geführte Debatte fand am 10. Februar 2011 im Deutschen Bundestag statt. Dort hatte sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition unter Kanzlerin Angela Merkel noch heftig für den 5. August als den Gedenktag für die „Opfer von Flucht und Vertreibung“ ausgesprochen. Und zwar, weil am 5. August 1950 die „Charta der Deutschen Heimatvertriebenen“ unterzeichnet worden war.
In dieser Charta hatten die Vertriebenenverbände ein „Recht auf Heimat“ als ein „von Gott geschenktes Grundrecht“ reklamiert – und forderten seine Verwirklichung. Ein Manifest des Revanchismus mitten im Kalten Krieg, das auf nichts weniger als auf die Rückgewinnung der verlorenen Heimat abzielte. Und das im Übrigen die deutschen Heimatvertriebenen als die vom „Leid dieser Zeit“ am schwersten Betroffen darstellte – die Vorgeschichte der Vertreibung ausblendete und jüdischen und anderen Opfer des Naziregimes in die zweite und dritte Reihe stellte.
Man kann also von Glück für die deutsche Erinnerungskultur sprechen, dass dieses Ansinnen 2011 im Bundestag nicht durchkam. Stattdessen legte die Regierungskoalition den Tag des Gedenkens an die „weltweiten Opfer von Flucht und Vertriebenen und insbesondere der deutschen Vertriebenen“ auf den 20. Juni. Dass der auf den seit dem Jahr 2000 begangenen Weltflüchtlingstag fällt, ist sicher kein Versehen, sondern Teil eines scharf kalkulierten Kompromisses.
Denn natürlich versteckt sich hinterm Rücken des Gedenkens an die weltweiten Flüchtlinge und Vertriebenen immer noch der Anspruch der deutschen Heimatvertriebenen. Deren langjährige Repräsentantin Erika Steinbach hat, was revanchistische Parolen angeht, inzwischen Kreide fressen gelernt. Trotzdem: Seit 2022 ist sie Mitglied der AfD.
Echtes historisches Erinnern, sagt der übrigens mit Erika Steinbach gleichaltrige Nationalsozialismus-Forscher Wolfgang Benz, gründet auf Lernen und Verstehen, bedarf der Sichtbarkeit, der Spurensuche und der Bewahrung durch Zeichen, Dokumente und Orte. Ob der Gedenktag 20. Juni wirklich ein Tag solchen Erinnerns sein kann? Natürlich werden Reden gehalten. Und sämtliche Bundesbehörden „vollmast beflaggt“, wie die Bundesregierung mitteilt.
WDR3 Mosaik 20. Juni 2025